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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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wurden wir
unterbrochen von der Ankunft eines hochgewachsenen, gertenschlanken Teenagermädchens
mit dunklem Wuschelkopf, etwas zu viel Make-up und dem unvermeidlichen
Schmollmund; unter hautengen Jeans und einem bauchfreien gestreiften Oberteil
deutete sich eine verführerisch frauliche Figur an. Ich brauchte zwei, drei
Sekunden, um zu begreifen, dass das meine Tochter war. Sie kam herüber und gab
mir einen groben Kuss.
    »Hi, Dad.«
    »Lucy? Du siehst ...«, ich
suchte nach dem passenden Wort und stellte fest, dass es keins gab. »Du siehst
- wow. Du siehst fantastisch aus.«
    Ich konnte sehen, dass meine
Tochter sich verwandelt hatte, seit sie hier war. Wenn ihre Mutter zehn Jahre
verloren hatte, schien Lucy mindestens vier oder fünf dazugewonnen zu haben.
Ich fand nichts mehr von dem kleinen Mädchen, das ich zuletzt (konnte ich
diesen Gedanken zulassen? Ich hatte mir die Szene nicht mehr vorzustellen
gewagt, seit sie passiert war. Der Gedanke war zu schmerzhaft gewesen, und Menschen
verfügen über Mechanismen, um mit solchen Dingen fertigzuwerden - die Seele hat Sicherungen) an diesem schrecklichen
Samstagmorgen gesehen hatte, als Lucy und Caroline in ihrem gemieteten
Transit-Lieferwagen Richtung Cumbria davongefahren waren, ihre gesamte Habe im
Laderaum, beide in resolutem Schweigen geradeaus starrend, gläsernen Blicks,
ohne auf mein Abschiedswinken zu reagieren ...
    So: Ich hatte wieder daran
gedacht, endlich. Und jetzt, als mir klar wurde, wie sehr Lucy sich seit diesem
Tag verändert hatte, langte ich mit ahnungsvollem Grusel nach dem Geschenk auf
dem Küchentisch und gab es ihr, unverpackt, noch in der Tragetasche aus
Plastik.
    Die Erinnerung an ihre
Reaktion schmerzt mich jetzt noch. Immer noch lässt der Gedanke daran mich
erschauern. Als sie die Plastiktüte öffnete und das Malbuch mit den Filzstiften
sah, musste sie erkennbar zwei Mal hinsehen, bevor sie sagte: »Danke, Dad« und
mir einen flüchtigen Kuss gab, bevor sie einen kurzen Blick hinüber zu Caroline
schoss - einen kleinen, leise amüsierten, verzweifelnden Blick, der viel
deutlicher als alle Worte sagte: »Armer alter Dad: lebt total hinterm Mond, oder?«
    Ich schaute weg, und nur um
das Schweigen zu füllen, sagte ich: »Komm raus und sieh dir mein Auto an, bevor
wir essen gehen. Das hat ein eingebautes Navi und alle Schikanen.«
    Als könnte das Eindruck auf
sie machen.
     
    Lucy teilte mir mit, dass sie
chinesisches Essen wegen der vielen Mononatriumglutamate boykottierte, also
bestellte ich den Tisch wieder ab, und wir gingen stattdessen zu einem
Italiener ein paar Häuser weiter. Voller Unbehagen registrierte ich, dass er zu
keiner Kette gehörte, es war also ein Sprung ins Ungewisse. Offenbar war Lucy
inzwischen Vegetarierin und bestellte sich eine Gemüselasagne. Ich widerstand
der Versuchung einer Hackfleischpizza und gab ein Pilzrisotto in Auftrag. Nicht
besonders aufregend, aber ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, ihr das Gefühl
geben, ihre Überzeugungen seien mir gleichgültig. Wenn ich es mit Parmesan
zuschüttete, schmeckte es vielleicht ganz passabel.
    »Und?«, begann ich. »Wie
geht's dir hier oben im Norden?«
    »Gut«, sagte Lucy.
    Ich wartete auf weitere
Ausführungen. Vergeblich. »Ein hübsches Haus habt ihr«, äußerte ich vorsichtig.
»Magst du es?«
    »Ja«, sagte sie. »Ist ganz
okay.« Auch dazu wollte sie nicht mehr sagen. »Und die Schule?«, fragte ich.
»Hast du viele neue Freunde gefunden?«
    »Ja«, sagte sie. »Ein paar.«
    Ich wartete, dass sie mehr
dazu sagte, stattdessen ertönte irgendwo in ihrer Handtasche ein Klingelton.
Sie brachte ein Blackberry zum Vorschein und schaute auf das Display. Ihr
Gesicht hellte sich auf, sie lachte laut und begann augenblicklich, auf der
Tastatur zu tippen. Ich schenkte mir Wein nach und tunkte ein Stück Weißbrot in
die Schale mit Olivenöl, während ich wartete.
    »Ist das Carolines
Blackberry?«, fragte ich, als sie fertig zu sein schien.
    »Nein. Das hab ich schon
ewig.«
    »Oh. Und wer war das?«, fragte
ich und zeigte auf das kleine Display.
    »Ein Bekannter.«
    Schweigen breitete sich
zwischen uns aus, und meine Enttäuschung wuchs. War es schon so weit gekommen
in meiner Beziehung zu meiner eigenen Tochter? War das alles, was sie zu mir zu
sagen hatte? Himmel Arsch, wir haben zwölf Jahre unter einem Dach gelebt, in
absoluter Vertrautheit zusammengelebt. Ich habe ihr die Windeln gewechselt, sie
gebadet. Ich habe mit ihr gespielt, ihr vorgelesen, und

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