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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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morgen
heimgekommen, hat seine Sachen dagelassen und ist gleich wieder los. Danach
haben wir ihn nicht mehr gesehn. Er hat nicht bei uns geschlafen. Aber ich
weiß, wo seine Freunde wohnen. Wir können erst mal da nachsehn.«
    »Willst du das, Florence?«
fragte ich.
    »Wir müssen
ihn suchen«, sagte Florence, »was anderes bleibt uns nicht übrig.«
    »Wenn Sie
wollen, kann ich fahren«, sagte der Mann. »Das ist sowieso besser, wissen Sie.«
    Ich stieg aus und setzte
mich nach hinten zu Florence.
    Der Regen
kam jetzt schwerer herunter; der Wagen spritzte durch Pfützen auf der unebenen
Straße. Unter dem schmutzig gelben Licht der Straßenbeleuchtung bogen wir links
ab und rechts und machten dann halt. »Vorsicht, nicht ausschalten«, sagte ich
zu Mr. Thabane, dem Cousin.
    Er stieg aus und klopfte an
ein Fenster. Es erfolgte ein langes Gespräch mit jemandem, den ich nicht sehen
konnte. Als er zurückkam, war er durchnäßt und fror. Mit klammen Fingern holte
er ein Päckchen Zigaretten heraus und versuchte, sich eine anzuzünden.
    »Bitte
nicht im Wagen«, sagte ich. Ein verärgerter Blick zwischen ihm und Florence.
    Schweigend
saßen wir da. »Worauf warten wir?« fragte ich.
    »Sie
schicken wen, der uns den Weg zeigt.«
    Ein kleiner
Junge mit einem ihm zu großen wollenen Kopf- und Nackenschützer kam aus dem
Haus getrabt. Seiner selbst völlig sicher, stieg er, uns alle mit einem Lächeln
grüßend, in den Wagen und begann Richtungen anzugeben. Höchstens zehn Jahre
alt. Ein Kind der Zeit, zu Hause in diesem Gelände der Gewalt. Wenn ich an
meine eigene Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich nur an lange,
sonnenstichige Nachmittage, den Geruch von Staub unter Eukalyptusalleen, das
leise Murmeln von Wasser in Straßengräben, an das Gurren von Tauben. Eine
Kindheit des Schlafes, Vorspiel auf das, was als ein sorgloses Leben und ein
sanfter Übergang ins Nirwana gedacht war. Wird uns wenigstens unser Nirwana
vergönnt sein, uns Kindern jenes vergangenen Zeitalters? Ich bezweifele es. Wenn
überhaupt Gerechtigkeit herrscht, werden wir uns an der ersten Schwelle zur
Unterwelt ausgesperrt finden. Weiß wie Larven in unseren Windeln, werden wir
jenen Kinderseelen zugewiesen werden, deren ewiges Wimmern Aeneas für Weinen
hielt. Weiß unsere Farbe, die Farbe des Limbus: weißer Sand, weiße Felsen, ein
weißes, von allen Seiten herabströmendes Licht. Wie eine Ewigkeit des Liegens
am Strand, ein endloser Sonntag unter Tausenden unseresgleichen, träge, halb
schlafend, in Hörweite des behaglichen Leckens der Wellen. In limine primo: an
der Schwelle des Todes, der Schwelle des Lebens, Auswurf der See, auf Sand
ausgesetzte Geschöpfe, unbestimmt, unentschieden, weder heiß noch kalt, weder
Fisch noch Fleisch.
    Die letzten Häuser lagen
hinter uns, und wir fuhren in grauem Frühlicht durch eine Landschaft versengter
Erde, schwarz gewordener Bäume. Ein Kleintransporter überholte uns, mit drei
Männern hinten auf der Pritsche, die eine Plane über sich hielten. An der
nächsten Straßensperre holten wir sie ein. Ausdruckslos sahen sie uns an, Auge
in Auge, während wir darauf warteten, inspiziert zu werden. Ein Polizist winkte
sie durch, winkte auch uns durch.
    Wir fuhren
jetzt nach Norden, weg von dem Berg, dann von der Landstraße hinunter auf eine
unbefestigte Straße, die bald Sand wurde. Mr. Thabane hielt an. »Wir können
nicht weiterfahren, es ist zu gefährlich«, sagte er. »Mit Ihrer Lichtmaschine
stimmt was nicht«, fügte er hinzu und zeigte auf das rote Licht, das im
Armaturenbrett glühte.
    »Ich laß die Dinge
auslaufen«, sagte ich. Ich hatte keine Lust zu Erklärungen.
    Er
schaltete den Motor ab. Eine Weile saßen wir da und lauschten dem Trommeln des
Regens auf das Dach. Dann stiegen Florence aus und der Junge. Das Baby, auf
ihren Rücken gebunden, schlief friedlich.
    »Am besten
ist, Sie halten die Türen verschlossen«, sagte Mr. Thabane zu mir.
    »Wie lange bleibt ihr weg?«
    »Kann ich
nicht sagen, aber wir beeilen uns.«
    Ich
schüttelte den Kopf. »Ich bleib nicht hier«, sagte ich.
    Ich hatte keinen Hut,
keinen Schirm. Der Regen schlug mir ins Gesicht, klatschte mir das Haar an den
Schädel, lief mir ins Genick. Bei so einem Ausflug, dachte ich, holt man sich
eine tödliche Erkältung. Der Junge, unser Führer, war schon vorausgeeilt.
    »Nehmen Sie
das über Ihren Kopf«, sagte Mr. Thabane und bot mir den Plastikregenmantel an.
    »Unsinn«,
sagte ich, »ein bißchen Regen macht mir nichts

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