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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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dachte ich. Was mach ich hier? Ich hatte eine
Vision von dem kleinen grünen Wagen, der still am Straßenrand wartete. Ich
sehnte mich nur noch danach, in meinen Wagen zu steigen, die Tür hinter mir
zuzuschlagen, diese unheimliche Welt der Wut und Gewalt auszuschließen.
    Ein Mädchen, eine enorm
dicke Halbwüchsige, rempelte mich mit der Schulter um. »Fahr zur Hölle!« keuchte
ich, als ich fiel. »Fahr du zur Hölle!« keuchte sie zurück, giftsprühend: »Hau
ab! Verschwinde hier!« Und mit bebenden Hinterbacken stampfte sie den Dünenhang
hinauf.
    Noch so ein Stoß, dachte
ich mit dem Gesicht im Sand, und es ist aus mit mir. Diese Menschen können viel
einstecken, aber ich, ich bin zerbrechlich wie ein Schmetterling.
    Füße
mahlten an mir vorbei. Ich sah kurz einen braunen Stiefel, mit flappender
Lasche, die Sohle mit Kordel festgebunden. Der Tritt, vor dem ich zurückzuckte,
kam nicht.
    Ich stand auf. Zu meiner
Linken fand irgendein Kampf statt. All die Menschen, die eben noch in den Busch
geflohen waren, strömten ebenso plötzlich wieder zurück. Eine Frau schrie, hoch
und laut. Wie konnte ich wegkommen von diesem schrecklichen Ort? Wo war der
Tümpel, den ich durchwatet hatte, wo war der Weg zum Wagen? Überall waren
Tümpel, Teiche, Pfützen, Wasserlachen, überall waren Wege, aber wohin führten
sie?
    Deutlich
hörte ich das Knallen von Gewehrfeuer, einen, zwei, drei Schüsse, nicht in der
Nähe, aber auch nicht weit weg.
    »Kommen Sie«, sagte eine
Stimme, und Mr. Thabane schritt vorbei. »Ja!« keuchte ich und japste hinter ihm
her. Aber ich konnte ihn nicht einholen. »Langsamer, bitte«, rief ich. Er
wartete. Zusammen durchquerten wir wieder den Tümpel und erreichten den Weg.
    Ein junger
Mann kam an unsere Seite, die Augen blutunterlaufen. »Wo geht ihr hin?« wollte
er wissen. Eine strenge Frage, eine strenge Stimme.
    »Ich geh
weg, ich mach mich davon, ich bin hier fehl am Platz«, antwortete ich.
    »Wir gehn den Wagen holen«,
sagte Mr. Thabane.
    »Wir wollen
diesen Wagen benutzen«, sagte der junge Mann.
    »Ich überlasse niemandem
meinen Wagen«, sagte ich.
    »Das ist
ein Freund von Bheki«, sagte Mr. Thabane.
    »Das ist
mir egal, er kriegt meinen Wagen nicht.«
    Der junge
Mann – eigentlich gar kein Mann, sondern ein Junge, der wie ein Mann gekleidet
war, sich wie ein Mann aufführte – machte eine seltsame Gebärde: eine Hand in
Kopfhöhe haltend, schlug er sie mit der anderen, Handfläche gegen Handfläche,
ein streifender Schlag. Was bedeutete er? Hatte er etwas zu bedeuten?
    Mein Rücken
schmerzte furchtbar vom Gehen. Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb
stehen. »Ich muß bald nach Hause kommen«, sagte ich. Es war eine flehentliche
Bitte; ich konnte das Vibrieren meiner Stimme hören.
    »Sie haben
genug gesehn?« sagte Mr. Thabane, distanzierter klingend als zuvor.
    »Ja, ich
hab genug gesehn. Ich bin nicht wegen Sehenswürdigkeiten hergekommen. Ich bin
gekommen, um Bheki zu holen.«
    »Und Sie wollen nach
Hause?«
    »Ja, ich will nach Hause.
Ich habe Schmerzen, ich bin erschöpft.«
    Er drehte
sich um und ging weiter. Ich humpelte hinter ihm her. Dann blieb er wieder
stehen. »Sie wollen nach Hause«, sagte er. »Aber was ist mit den Menschen, die
hier leben? Wenn die nach Hause wollen, dann müssen sie dahingehen. Was
halten Sie davon?«
    Wir standen im Regen,
mitten auf dem Weg, von Angesicht zu Angesicht. Auch Passanten blieben stehen,
betrachteten mich neugierig, meine Sache, ihre Sache, jedermanns Sache.
    »Ich habe keine Antwort«,
sagte ich. »Es ist schrecklich.«
    »Es ist
nicht bloß schrecklich«, sagte er, »es ist ein Verbrechen. Wenn Sie sehen, daß
vor Ihren Augen ein Verbrechen begangen wird, was sagen Sie dann? Sagen Sie
dann: ›Ich hab genug gesehn, ich bin nicht wegen Sehenswürdigkeiten gekommen,
ich will nach Hause‹?«
    Verzweifelt
schüttelte ich den Kopf.
    »Nein, das sagen Sie
nicht«, sagte er. »Richtig. Was also sagen Sie? Was für eine Art Verbrechen ist
es, das Sie sehen? Was ist sein Name?«
    Er ist
Lehrer, dachte ich: deswegen spricht er so gut. Was er mit mir macht, hat er im
Klassenzimmer praktiziert. Es ist der Trick, den man anwendet, um die eigene
Antwort so aussehen zu lassen, als käme sie von dem Kind. Bauchrednerei, das
Vermächtnis des Sokrates, in Afrika ebenso erdrückend wie einst in Athen.
    Ich blickte
mich im Kreis der Zuschauer um. Waren sie feindselig? Ich konnte keine
Feindseligkeit entdecken. Sie warteten lediglich darauf, daß

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