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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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und
schneller geht. Ich hatte daran gedacht, man würde die ganze Strecke im Paßgang
nehmen können. Falsch, ganz falsch.
    Die Art, wie alles zu Ende
geht, hat etwas Erniedrigendes – erniedrigend nicht nur für uns, sondern für
die Vorstellung, die wir von uns haben, von der Menschheit. Die Menschen liegen
in dunklen Schlafzimmern, in ihrem eigenen Unrat, hilflos. Die Menschen liegen
in Hecken im Regen. Du wirst das nicht verstehen, noch nicht. Vercueil schon.
    Vercueil
ist wieder verschwunden und hat den Hund hiergelassen. Es ist schade um
Vercueil. Kein Odysseus, kein Hermes, vielleicht nicht einmal ein Bote. Ein in
Kreisen Laufender. Ein Zauderer, trotz des wettergegerbten Äußeren.
    Und ich?
Wenn Vercueil seine Prüfung nicht bestanden hat, was war meine? War es meine
Prüfung, ob ich den Mut haben würde, mich vor dem Haus der Lügen einzuäschern?
Ich bin diesen Moment tausendmal in Gedanken durchgegangen, den Moment des
Entzündens des Streichholzes, wenn leichte Schläge meine Ohren treffen und ich
erstaunt und sogar erfreut inmitten der Flammen sitze, unberührt, mit
brennender Kleidung, ohne daß sie mich versengt, die Flammen ein kühles Blau. Wie
einfach, seinem Leben Sinn zu geben, denke ich überrascht, sehr schnell
denkend im letzten Augenblick, bevor die Wimpern Feuer fangen, und die Brauen,
und man nicht mehr sieht. Danach dann kein Gedanke mehr, nur Schmerz (denn
nichts kommt ohne seinen Preis).
    Würde der
Schmerz schlimmer sein als Zahnweh? Als Kindsgeburt? Als diese Hüfte? Als
Kindsgeburt mal zwei? Wieviel Diconal, um ihn zu dämpfen? Entspräche es den
Regeln, das ganze Diconal zu schlucken, bevor man den Wagen, knapp an der Kette
vorbei, in die Government Avenue lenkt? Muß man in voller Kenntnisnahme
sterben, ganz man selbst? Muß man seinen Tod ohne Anästhetikum gebären?
    Die Wahrheit
ist, daß immer etwas falsch war an diesem Impuls, gründlich falsch, egal auf
welche Wut oder Verzweiflung er die Reaktion war. Wenn wochen- und monatelanges
Sterben im Bett, in einer Vorhölle aus Schmerz und Scham, meine Seele nicht
rettet, warum sollte ich dann dadurch gerettet werden, daß ich in zwei Minuten
in einer Flammensäule sterbe? Werden die Lügen aufhören, weil eine kranke, alte
Frau sich tötet? Wessen Leben wird geändert sein, und wie? Ich komme zurück auf
Florence, wie so oft. Wenn Florence vorbeikäme, mit Hope an ihrer Seite und
Beauty auf dem Rücken, würde sie beeindruckt sein von dem Schauspiel? Würde sie
auch nur einen Blick dafür übrig haben? Ein Gaukler, ein Clown, ein
Entertainer, würde Florence denken: kein seriöser Mensch; und weiterschreiten.
    Was würde in Florences
Augen als seriöser Tod zählen? Was würde ihre Zustimmung finden? Antwort: ein
Tod, der ein Leben ehrenhafter Arbeit krönt; oder auch einer, der von selber
kommt, unwiderstehlich, unangekündigt, wie ein Donnerschlag, wie eine Kugel
zwischen die Augen.
    Florence
ist der Richter. Hinter der Brille messen ihre Augen alles mit ruhigem Blick.
Eine Ruhe, die sie bereits an ihre Töchter weitergegeben hat. Der Gerichtssaal
gehört Florence; und ich bin es, die der Prüfung unterzogen wird. Wenn das
Leben, das ich führe, ein untersuchtes Leben ist, dann deswegen, weil ich zehn
Jahre lang vor dem Untersuchungsgericht von Florence gestanden habe.
    »Haben Sie
Dettol?«
    Seine Stimme schreckte mich
auf, als ich schreibend in der Küche saß. Seine, die des Jungen.
    »Geh nach
oben. Sieh im Badezimmer nach, die Tür rechts. Im Schränkchen unter dem
Waschbecken.«
    Wasser
plätscherte, dann kam er wieder nach unten. Der Verband war ab. Überrascht
bemerkte ich, daß die Fäden noch nicht gezogen waren.
    »Haben sie
die Fäden nicht gezogen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Aber wann
hast du das Krankenhaus verlassen?«
    »Gestern. Nein,
vorgestern.«
    Warum mußte
er lügen?
    »Warum bist du nicht
geblieben und hast dich versorgen lassen?«
    Keine Antwort.
    »Du darfst
diese Wunde nicht unbedeckt lassen, sonst entzündet sie sich, und du behältst
eine häßliche Narbe zurück.« Für den Rest seines Lebens gezeichnet wie von
einem Peitschenhieb. Ein Memento.
    Wer ist er für mich, daß
ich dauernd an ihm herumnörgele? Doch ich hielt sein offenes Fleisch zu,
stillte den Fluß seines Blutes. Wie beharrlich der Trieb zu bemuttern! Wie eine
Henne, die ihre Küken verloren hat, ein Entchen annimmt, ungeachtet des gelben
Flaums, des flachen Schnabels, und ihm beibringt, im Sand zu baden, nach
Würmern zu

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