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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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her, aber ich will das nicht wiederholen. Wir tauschten Meinungen
aus. Wir kamen überein, verschiedener Meinung zu sein.
    Der
Nachmittag schleppte sich dahin. Niemand holte den Jungen ab. Ich lag im Bett,
groggy von Medikamenten, ein Kissen unter dem Rücken, und versuchte, mit einer
kleinen Lageveränderung nach der anderen den Schmerz zu lindern, nach Schlaf
mich sehnend, vor dem Borodino-Traum mich fürchtend.
    Die Luft
wurde drückend, es begann zu regnen. Aus den verstopften Dachrinnen troff es
stetig. Der Geruch von Katzenurin zog vom Flurteppich herein. Ein Grabgewölbe,
dachte ich: ein spätbürgerliches Grabgewölbe. Mein Kopf wälzte sich hin und
her. Graues Haar auf dem Kissen, ungewaschen, schütter. Und in Florences
Zimmer, in zunehmender Dunkelheit, der Junge auf dem Rücken liegend, mit der
Bombe, oder was es sonst ist, in der Hand, die Augen weit offen, nicht
verschleiert, sondern klar: wie er denkt, mehr als denkt, es sich ausmalt. Wie
er sich den ruhmreichen Moment ausmalt, in dem er aufstehen wird, endlich ganz
er selbst, hoch aufgerichtet, mächtig, verklärt. Wenn die feurige Blume sich
entfalten wird, wenn die Rauchsäule aufsteigen wird. Die Bombe auf seiner Brust
wie ein Talisman: so wie Christoph Kolumbus im Dunkel seiner Kajüte lag, den
Kompaß auf seiner Brust haltend, das mystische Instrument, das ihn nach Indien
bringen würde, zu den Inseln der Seligen. Scharen von Mädchen mit entblößten
Brüsten, ihn ansingend, die Arme öffnend, und er watet durch seichtes
Uferwasser auf sie zu, vor sich die Nadel haltend, die niemals schwankt, die
immerzu in eine Richtung zeigt, in die Zukunft.
    Armes Kind! Armes Kind! Von
irgendwoher kamen Tränen, und meine Sicht verschwamm. Armer John, der in
früheren Zeiten zu einem Gärtnerjungen bestimmt gewesen wäre, der an der
Hintertür zu Mittag Marmeladenbrot gegessen und aus einer Konservendose
getrunken hätte; und jetzt kämpft er für all die Beleidigten und Verletzten,
die Getretenen, die Verlachten, für all die Gärtnerjungen von Südafrika!
     
     
    In der Kälte des frühen
Morgens hörte ich, daß jemand sich am Hoftor zu schaffen machte. Vercueil,
dachte ich: Vercueil ist zurück. Dann klingelte es vorne an der Haustür,
einmal, zweimal, jedesmal lange, gebieterisch, ungeduldig, und ich wußte, es
war nicht Vercueil.
    Ich brauche
jetzt Minuten, um die Treppe hinunterzukommen, besonders, wenn ich benommen bin
von den Pillen. Während ich im Halbdunkel nach unten kroch, klingelten sie
weiter und schlugen an die Tür. »Ich komme!« rief ich so laut ich konnte. Aber
ich war zu langsam. Ich hörte das Hoftor aufschwingen. Plötzlich ein Klopfen an
der Küchentür und afrikaans sprechende Stimmen. Dann, so flach und nichtssagend
wie ein Stein, der gegen einen anderen schlägt, das Geräusch eines Schusses.
    Eine Stille trat ein, in
der ich deutlich das Klirren splitternden Glases hörte. »Warten Sie!« rief ich
und rannte, rannte wahrhaftig – wie ich das fertigbrachte, weiß ich nicht – zur
Küchentür. »Warten Sie!« rief ich, an die Scheibe schlagend und an Riegeln und
Ketten herumfummelnd – »Tun Sie nichts!«
    Jemand in
einem blauen Mantel stand, mit dem Rücken zu mir, auf der Veranda. Obwohl er
mich gehört haben mußte, drehte er sich nicht um.
    Ich zog den letzten Riegel
zurück, stieß die Tür auf, erschien zwischen ihnen. Ich hatte meinen
Morgenmantel vergessen, war barfuß, stand da in meinem weißen Nachthemd wie,
könnt ich mir denken, eine von den Toten auferstandene Leiche. »Warten Sie!«
sagte ich. »Tun Sie noch nichts, er ist noch ein Kind!«
    Es waren drei. Zwei waren
in Uniform. Der dritte, in einem Pullover mit einem Zug Rentieren über der
Brust, hielt eine nach unten gerichtete Pistole. »Geben Sie mir eine Chance,
mit ihm zu reden«, sagte ich, durch die Regenpfützen der Nacht patschend. Sie
schauten erstaunt, versuchten aber nicht, mich aufzuhalten.
    Das Fenster von Florences
Zimmer war in Scherben. Das Zimmer selbst lag in Dunkelheit; doch als ich durch
das Loch hineinspähte, konnte ich eine Gestalt ausmachen, die hinter dem Bett
kauerte.
    »Mach die Tür auf, mein
Junge«, sagte ich. »Ich laß nicht zu, daß sie dir weh tun, ich versprech’s.«
    Das war eine Lüge. Er war
verloren, es stand nicht in meiner Macht, ihn zu retten. Doch es ging etwas von
ihm aus, das mich erreichte. Ich sehnte mich, ihn in die Arme zu nehmen, um ihn
zu beschützen.
    Einer von den Polizisten
erschien neben mir, an die Wand

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