Coins - Die Spur des Zorns
sie vergessen. Er musste sie warnen!
Pohl hockte auf dem Steg, genoss die noch immer kraftvolle Abendsonne. Der Sommer zeigte sich in den Wäldern West Virginias von seiner besten Seite. Hierzu zählte die geradezu himmlische Ruhe fern jeder städtischen Hektik, die nach Harz und Gräsern duftende Luft, ganz besonders aber die weitgehend unberührte Natur – der richtige Ort, die Seele baumeln zu lassen. Er beugte sich nach vorn, betrachtete im Wasser sein Spiegelbild, erschrak, als sich unerwartet zu seinem Abbild ein zweites gesellte.
Pohl fuhr herum, blickte auf zwei sonnengebräunte, perfekt geformte Schenkel, die hoch über ihm in einer knapp sitzenden Shorts aus gebleichtem Jeansstoff verschwanden. Sein Blick glitt höher zu dem zusammengeknoteten Hemd, das den Blick auf die sanfte Wölbung eines straffen, nicht minder sonnengebräunten Bauches gewährte, geziert vom süßesten Nabel West Virginias. Noch höher stieg sein Blick, bahnte sich durch den Einschnitt zweier vielversprechender, das Hemd aufgrund des verknappenden Knotens bis an den Rand der Belastbarkeit straffenden Rundungen hindurch zu einem strahlenden, wunderhübschen Gesicht, umrahmt von weich in die Tiefe fallenden, in der Abendsonne goldfarben schimmernden Locken. Es war das hübscheste Gesicht der Oststaaten, ach was, ganz Amerikas! Das göttliche Gesamtkunstwerk gehörte Esther! Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
„Du hast schon wieder ein Hemd von mir an!“ Pohl gab sich vorwurfsvoll, tat, als störe ihn dieser Tatbestand. Tatsächlich fand er es reizvoll, dass Esther während des Sommers ein zunehmendes Faible für seine Oberhemden entwickelte. Seine Hemden auf Esthers nackter Haut – das hatte etwas Erotisches. Am liebsten trug sie die Weißen, herrlicher Kontrast zum Bronzeton ihrer sonnenverwöhnten Haut. Ihm blieben halt die anderen …
„Ist das deine Begrüßung? Hab‘ ich nicht mehr verdient?“
Im Nu stand Pohl vor ihr, zog sie an sich heran. Es war eine liebevolle Umarmung, so ungezwungen, so ehrlich wie die Natur um sie herum. Sie küsste ihn leidenschaftlich, zog sich plötzlich aus seinem Mund zurück. „Entschuldige! Ich bin von der Fahrt verschwitzt. Komm, lass uns schwimmen, bevor die Kinder zurückkehren! Mir ist nach kühlem Seewasser! Die Luft in Charleston war grässlich.“
„Ich hab‘ meine Badehose im Haus. Ich zieh sie rasch an …“
„Mein Gott! Wir sind allein, niemand sieht uns! Ich dachte immer, wir Amerikaner seien prüde!“
„Und du? Du hast doch auch keine Badesachen …“
„Mir reicht der See.“ Ihr Lächeln war unergründlicher als der Summersville Lake an seiner tiefsten Stelle. Pohl ahnte, was nun käme, fühlte den aufbrausenden Herzschlag. Was war nur in Esther gefahren? Bisher war sie sehr darauf bedacht, dass jeder seine Intimität bewahrte. Sie war eine kluge Frau, trotz ihres zuweilen ungestümen Temperaments stets dann beherrscht, wenn die Emotion den Intellekt zu überwältigen drohte. Pohl hatte schon bald erkannt, was sie zu dieser kaum spürbaren, doch stets präsenten Zurückhaltung bewog: Es war das Wohl ihres Sohnes Max. Auf ihn fokussierte sie seit dem tragischen Soldatentod ihres Mannes nicht nur ihre Liebe, sondern auch ihr ganzes Pflichtbewusstsein. Sie wollte dem Buben, der in so jungen Jahren sein Vorbild, den Vater, verlor, die Enttäuschung einer Trennung ersparen. Max suchte nämlich die Nähe der Männer, suchte in ihnen den Vaterersatz. Außerdem war er zwölf, fast selbst schon Mann. So sah er es jedenfalls.
Esther hatte Pohl gegenüber aus ihrer Zuneigung nie ein Hehl gemacht, doch sie stellte ihre Gefühle in den Hintergrund. ‚Wenn es mit den Kindern nicht klappt, klappt es mit uns ebenfalls nicht‘ hatte sie vor einigen Wochen gesagt, ihn, als sie seine Enttäuschung bemerkte, inniglich umarmt. In dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander. Doch am nächsten Tag war sie wieder da, diese subtile Distanz, von ihr perfekt vorgetragen, niemals verletzend, eher erotisch. Ihre Seelen hatten längst zueinander gefunden, ein hauchzartes Gewebe betörender Gefühle gestrickt, doch dazwischen schwebte nebelgleich Esthers Sorge nicht allein um das Wohlergehen ihres Sohnes, sondern längst auch das der Zwillinge. Gewiss, sie kamen sich von Tag zu Tag näher, immer tiefer drang ihr Empfinden in die Gefühlswelt des jeweils anderen ein, doch Pohl war sich dessen bewusst: Dies würde ein zwar steter, durch sehr behutsamer Prozess. Die noch immer nicht
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