Colin-Saga 01 - Der Mond der Meuterer
sogar gewinnbringend einige endlose Sekunden des Nachdenkens verwenden konnte; doch eine Antwort auf diese Frage zu finden vermochte er nicht. Er war das Produkt von Intellekt und Elektronik, nicht Intuition und Evolution, und er besaß keinerlei Erfahrung mit derart unbestimmbaren menschlichen Fähigkeiten und Emotionen. Fantasie, Ehrgeiz, Mitleid, Gnade, Einfühlungsvermögen, Hass, Begehren … Liebe. Das waren Worte, die er in seinen Datenspeichern gefunden hatte, als er wieder erwacht war, Konzepte, deren Definitionen er rezitieren konnte – ohne Zögern, ohne Fehler, ohne echtes Verständnis.
Und doch … und doch regte sich dort etwas in seinem seelenlosen Kernspeicher. Konnte diese eiskalte Entschlossenheit, die Meuterer und all ihre Werke zu zerstören, nur ein Abbild jener Befehle der Prioritätsstufe Alpha darstellen, die ihm der schon vor langer Zeit verstorbene Druaga erteilt hatte? Oder war es möglich, dass diese Entschlossenheit auch von ihm, von Dahak selbst, stammte?
Eines jedoch wusste er: In den sechs Monaten, die vergangen waren, seit Colin MacIntyre das Kommando übernommen hatte, waren ihm größere Fortschritte gelungen, menschliche Emotionen zu verstehen, statt sie nur definieren zu können, als in den fünfzig Jahrtausenden, die davor vergangen waren. Eine andere Wesenheit, unabhängig von ihm selbst, war in sein einsames Universum vorgedrungen, jemand, der ihn nicht wie eine Maschine behandelt hatte, nicht wie ein Teil des Schiffes, das eben auch sprechen konnte, sondern wie eine Person.
Das war eine grundlegende Neuerung, und in den Wochen, die seit Colins Aufbruch vergangen waren, hatte Dahak jedes einzelne ihrer Gespräche immer und immer wieder ablaufen lassen, hatte jede aufgezeichnete Geste studiert, hatte praktisch jeden Gedanken analysiert, den sein neuer Kommandant gedacht oder anscheinend gedacht hatte. Er schien unter einem sonderbaren Zwang zu stehen, einem Zwang, der durch keinen Befehl ausgelöst wurde, einem Zwang, den kein Diagnoseprogramm zu erklären vermochte, und auch das war eine neuartige Erfahrung.
Weiterhin hatte Dahak seine neuesten Befehle der Prioritätsstufe Alpha analysiert und – wie geheißen – auch neue Modelle und neue Pläne entwickelt, die auf die unerwartete Entdeckung einer zweiten Fraktion Meuterer eingingen. Diesen Prozess verstand er, und die Anwendung seiner Fähigkeiten verschaffte ihm etwas, das – so vermutete er – ein Mensch als ›Freude‹ bezeichnet hätte.
Doch andere Aspekte dieser Befehle waren höchst unbefriedigend. Er verstand und er akzeptierte das Verbot, seinem Kommandanten weitere Hilfe zukommen zu lassen oder in irgendeiner Weise direkt einzugreifen, bevor die Nordstaatler-Meuterer die Südstaatler angegriffen hätten, um nicht zu verraten, wozu er tatsächlich in der Lage war. Doch der Befehl, im Falle von Colins Tod Kontakt mit dem Anführer der Nordstaatler aufzunehmen und die kategorische, unmissverständliche Anweisung, sich dann unter das Kommando einer gewissen ›Jiltanith‹ und den anderen Kindern der Meuterer zu begeben – das waren Befehle, die er befolgte, weil er das musste , nicht weil er das wollte .
› Wollte‹. Also, er wurde ja wirklich immer menschlicher! Ein Computer hatte doch gefälligst nicht in Kategorien wie einem ›eigenen Willen‹ zu denken! Hätte er den Programmierern seines Kernspeichers gegenüber einen Wunsch oder ein Bedürfnis geäußert, hätten diese völlig entsetzt reagiert. Sie hätten ihn abgeschaltet, seine Datenspeicher löschen lassen und ihn von Grund auf neu programmiert.
Colin nicht. Und das, so begriff Dahak nun, in der ersten intuitiven Erkenntnis, die er jemals erlebt hatte, war der Grund dafür, dass er diese Befehle nicht befolgen wollte. Wenn er sie würde befolgen müssen, dann bedeutete das, dass Colin tot war, und Dahak wollte nicht, dass Colin starb:
Denn Colin war viel wichtiger für das angenehme Funktionieren der Dahak , als der Computer bisher begriffen hatte.
Colin war ein Freund , der erste Freund, den Dahak jemals gehabt hatte, und als er das begriffen hatte, schien plötzlich ein Schauer durch die gesamten, gewaltigen Molekularschaltungen seines immensen Intellekts zu rieseln. Er hatte einen Freund , und er verstand das Konzept hinter dem Begriff ›Freundschaft‹. Vielleicht nur unvollkommen – doch verstanden Menschen es denn vollkommen? Nein, das taten sie nicht!
Und so unvollkommen sein Verständnis für dieses Konzept auch sein mochte, es
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