Collection Baccara 0278
ohnehin nicht zu ihm zurückkommen würde.
„Rachel, wir brauchen noch Krokantplätzchen! Die Vitrine vorne ist leer!“
„Bin schon dabei!“, rief Rachel zurück.
„Und wenn du damit fertig bist, machst du noch …“ Bertha zählte eine lange Liste von Aufgaben auf, die Rachel erledigen sollte. Rachel nickte nur und hielt ihren Unmut zurück. Die harte Arbeit machte ihr nichts aus, doch der raue Umgangston, der bei Bitsy’s herrschte, missfiel ihr. Bertha war eine Sklaventreiberin. Sie vertrat den Standpunkt, die Angestellten sollten dankbar für ihren Job bei Bitsy’s sein, und sie machte jedem klar, dass schnell ein Ersatz für ihn gefunden würde, wenn er nicht parierte. Auch Rachel hatte den Arbeitsplatz von einem Mitarbeiter übernommen, den man gefeuert hatte. Sie nahm die Krokantplätzchen vom Blech und schlichtete sie sorgfältig auf ein Silbertablett. Wäre sie die Chefin des Bitsy’s, würde sie die Abläufe besser organisieren. Für ihre Begriffe lief hier alles viel zu chaotisch ab.
Zum Beispiel sollte dieVitrine imVerkaufsraum immer gleich morgens aufgefüllt werden und nicht erst, wenn längst alles verkauft war und sämtliche Angestellte gerade anderen Aufgaben nachgingen. Als sie das volle Tablett gegen das leere austauschte, stellte sie fest, dass kaum noch Schokoplätzchen da waren.
„Ich werde gleich noch die Schokoplätzchen auffüllen“, sagte sie zu Bertha.
„Nicht nötig, es sind noch ein paar da. Kümmere dich nicht darum, ich sage dir schon, wenn es so weit ist. Erledige erst einmal das, was ich dir vorhin aufgetragen habe. Du kommst sowieso nicht hinterher mit deiner Arbeit.“
Zum einen war es Berthas schroffer Ton, der Rachel plötzlich aus der Fassung brachte, zum anderen hatte sich in den letzten Wochen allerhand Frust angesammelt. Das war nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatte! Sie war müde, ausgelaugt und enttäuscht. Und sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie so nicht mehr weitermachen wollte.
„Ich komme mit meiner Arbeit nicht hinterher, weil du mir ständig neue Aufgaben dazwischenschiebst. Es hätte Zeit gespart, wenn ich das andere Tablett auch gleich aufgefüllt hätte.“
„Willst du etwa meine Kompetenz anzweifeln?“, fuhr Bertha sie an.
„Ich will dir nur sagen, dass man die Arbeitsabläufe hier viel effizienter koordinieren könnte“, gab Rachel in scharfem Ton zurück.
Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war Montagvormittag und ihre Schicht hatte gerade einmal vor einer dreiviertel Stunde begonnen. Sie müsste noch bis sechs aushalten. Und anschließend die ganze Woche. Und den ganzen Monat.
Plötzlich sah sie alles ganz klar – genauso, wie in dem Augenblick, als sie im Alessandro’s die Torte nach Marco geworfen hatte. Das Problem war nicht der unbefriedigende Arbeitsplatz, das Problem waren die Leute um sie herum.
Als sie nach der Highschool nach NewYork gekommen war, war sie auf der Suche nach etwas Neuem gewesen. Sie hatte einiges dazugelernt, sowohl in Bezug auf ihre Kochkünste als auch, was zwischenmenschliche Beziehungen betraf. Wäre sie damals in Morrisville geblieben, hätte sie ihr Leben lang im Schatten ihrer Großmutter gestanden. Hier jedoch hatte Rachel nicht zuletzt gelernt, wesentlich bessere Brownies zu backen als sie.
Rachel hatte ihren dreißigsten Geburtstag alleine verbracht. Es hatte keinen Kuchen gegeben, keine Kerzen, keine Party und keine Geschenke. War das das Leben, das sie sich vorgestellt hatte? Sie war jetzt dreißig und wollte endlich ihre Träume verwirklichen. Zum ersten Mal wusste sie, was sie zu tun hatte, und sie hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät war.
„Ich kündige!“, erklärte sie und warf ihre Schürze auf die Küchentheke.
Fassungslos starrte Bertha sie an. „D-d-das geht nicht. Du hast gerade mit einem Kuchen angefangen“, stammelte sie.
Rachel spürte, wie eine zentnerschwere Last von ihren Schultern fiel. Achselzuckend meinte sie: „Dann musst du ihn eben fertig machen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“ Anschließend holte sie ihre Sachen aus dem Spind und ging.
Hier hatte sie nichts mehr verloren. Es gab einen Ort, wo sie sehnsüchtig erwartete wurde. Wo ein Mann lebte, der sie so sehr liebte, dass er sie hatte ziehen lassen. Sie blickte auf die Turmuhr am Times Square, dann beschleunigte sie ihren Schritt. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, sie musste unbedingt das Flugzeug erreichen. Das Flugzeug, das sie nach Hause bringen würde.
Colin
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