Collection Baccara Band 335 (German Edition)
sie ihn das letzte Mal vor beinahe zwölf Jahren gesehen. Aber seine Augen waren unverwechselbar. Früher hatte er immer einen argwöhnischen Blick gehabt. Auf dem Foto machte er allerdings eher einen arroganten Eindruck.
Sie musterte das Bild und versuchte, weitere Veränderungen zu finden. Natürlich hatte die Zeit ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Irgendwie wirkte er unnahbar und humorlos. Doch vielleicht lag das nur am Foto.
Trotz dieser Veränderungen freute sie sich auf das Wiedersehen. Nach all der Zeit hatten sie sich wiedergefunden. Na ja, eigentlich hatte sie ihn gefunden. Aber das war nicht so wichtig.
Sie fragte sich, ob er sich auch freuen würde, sie wiederzusehen. Würde er sich überhaupt an sie erinnern? Sie selbst würde niemals die drei leidenschaftlichen Monate vergessen, die sie damals zusammen verbracht hatten.
Rasch sammelte sie ihre Sachen ein und warf sie in die Tasche. Anschließend las sie den Text, der unter dem Foto stand. Aha! Er hatte sich also einen Namen als Ingenieur und Erfinder gemacht. Schön für ihn. Er war sogar der Hauptredner der Veranstaltung. In fünf Minuten begann seine Rede. Wunderbar! Daisy hatte an diesem Nachmittag noch nichts vor. Bestimmt würde es niemanden stören, wenn sie sich die Rede anhörte. Immerhin waren Justice und sie alte Freunde – sogar mehr als das.
Um ehrlich zu sein, war er nicht nur ihr erster, sondern auch ihr bester Liebhaber gewesen. In all den Jahren hatte sie immer wieder an ihn denken müssen. Nie wieder hatte sie eine so erfüllende Beziehung mit einem Mann gehabt. Justice war großzügig, geduldig und höflich gewesen. Er hatte das Beste aus seinem Leben gemacht – und das trotz seiner Vergangenheit.
Sie konnte es wirklich kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
Vor dem Konferenzsaal standen zwei Männer, die die Besucherausweise kontrollierten. Daisy wartete den richtigen Moment ab und huschte an den Männern vorbei, als sie abgelenkt waren. Der Raum war bereits so voll, dass viele Gäste stehen mussten. Nach kurzem Suchen fand Daisy allerdings noch einen Platz in der zweiten Reihe. Zwar wollte sie nicht so weit vorn sitzen, aber es war besser als ein Stehplatz.
Sie merkte schnell, dass sie hier so gar nicht hineinpasste. Eigentlich war sie wegen einer Buchlesung hier und trug deshalb im Gegensatz zu den sonstigen Teilnehmern keine Business-Kleidung. Sie musste wie eine Außerirdische auf die anderen wirken.
Bisher hatte sie kein Wort von dem verstanden, was sie von den Gesprächen um sich herum aufgeschnappt hatte. Diese Wissenschaftssprache war ihr fremd – obwohl Justice damals versucht hatte, sie ihr beizubringen.
Das Schlimmste jedoch war, dass sich hier so gut wie keine andere Frau befand. Der Raum war voller Testosteron. Nicht, dass Daisy etwas gegen Männer hatte. Aber die Überzahl, die hier herrschte, gab ihr das Gefühl, eine Maus in einem Käfig voller Katzen zu sein.
Als sie Platz nahm, lächelte sie die Männer neben sich an. Anstatt zurückzulächeln, sahen sie Daisy nur verdutzt an. Es schien, als wäre sie eine mathematische Gleichung, die sie nicht lösen konnten.
Gerade als sie Reißaus nehmen wollte, wurde das Licht gedimmt, und ein Mann betrat das Podium. Er kam gleich zur Sache und kündigte Justice St. John an. Ausführlich listete er dessen Referenzen und Erfindungen auf. Zwischendurch ließ er immer wieder Bemerkungen fallen, die wohl humorvoll gemeint waren. Jedenfalls kicherten viele im Raum – obwohl Daisy keinen Grund dafür erkennen konnte. Vielleicht war das wieder so eine Wissenschaftlersache.
Schließlich beendete der Mann seine Laudatio und sah zur linken Seite des Raums.
Schweigend warteten alle auf den Auftritt des Hauptredners. Als Justice endlich das Podium betrat, tat er es so anmutig, dass er Daisy sofort an den Mann erinnerte, in den sie sich damals verliebt hatte.
Sie musste an den Tag denken, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Und an die aufregende Nacht am See. Damals hatte Daisy ihre Unschuld verloren und war von ihm in die Kunst der Liebe eingeweiht worden.
Justice sah gelangweilt in die Menge und begann seine Rede, die mit unzähligen Fachausdrücken gespickt war. Obwohl Daisy kaum einen Satz verstand, fesselte seine Stimme sie ebenso wie jeden anderen im Raum.
Justice hatte sich sehr verändert. Wahrscheinlich hätte sie ihn nicht erkannt, wenn er auf der Straße an ihr vorbeigelaufen wäre.
Sie runzelte die Stirn. Wenn sie aber ganz genau hinsah, sah sie den
Weitere Kostenlose Bücher