Der letzte Schein der Sonne ließ die Kuppel des Felsendoms erglühen, aus den Lautsprechern an den Minaretten plärrten die Rufe zum Abendgebet. Marina schätzte, dass sie über drei Stunden in der Grotte verbracht haben musste. Eilig verließ sie den Tempelberg und tauchte in das Labyrinth der Altstadtgassen ein. Die Cafés schlossen bereits, die Besitzer der kleinen Souvenir- und Süßigkeitenläden räumten ihre Stände ein, die Gassen leerten sich rasch. Vergeblich hielt Marina nach Asaaf Ausschau. Sie hatte keine Ahnung, welchen Weg sie nehmen sollte, entschloss sich aber, das nächstbeste Stadttor zu erreichen, um von dort ein Taxi zur Großen Synagoge zu nehmen. Den Mann in der Kleidung eines katholischen Priesters, der ihr in einigem Abstand folgte, bemerkte sie nicht. Marina durchquerte eilig erst das armenische und dann das christliche Viertel. Als sie an dem verwinkelten Bau der Grabeskirche eine vermeintliche Abkürzung nehmen wollte, fand sie sich plötzlich in einer stillen engen Sackgasse wieder. Als sie ihren Irrtum erkannte und sich wieder umwandte, stand der Priester vor ihr. Er hielt einen Dolch in der Hand, den gleichen Dolch, den Al Husseini ihr an den Hals gesetzt hatte.
»Das Licht sei mit dir«, sagte der Mann auf Englisch mit einem amerikanischen Akzent und stieß ihr den Dolch in die Brust. Marina sackte röchelnd zusammen. Sie wollte noch etwas sagen, irgendetwas, aber ihr fehlte die Luft dazu. Sie konnte den Mann vor ihr nur wie staunend ansehen, der erneut mit dem Dolch zustieß. Und nochmal, und nochmal. Er hörte gar nicht mehr auf. Die ganze Zeit über sah er ihr dabei in die Augen. Und als er endlich fertig war und Marina immer noch nicht tot – küsste er sie. Gierig atmete er das Wesen in ihr ein wie etwas, das er dringend zum Leben brauchte. Marina kannte den Mann nicht, sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Aber sie wusste, in diesen letzten Momenten ihres Lebens, das nun flackernd erlosch, was dieser Priester bald sein würde: der neue Löwenmann. Das Letzte, was Marina spürte, bevor sie ins Licht ging, um Nikolas wiederzusehen, war, wie der Mann brutal ihre rechte Faust öffnete und ihr den kleinen blauen Gegenstand abnahm, den sie dort unten von Maria erhalten hatte.
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Von:
[email protected] An:
[email protected] 14. Juli 2011 21:32:07 GMT+02:00
Betr.: Bericht_001
Meister!
Ich habe das Amulett. Beginne jetzt mit der Suche nach S.K.
Hoathahe Saitan!
Babcock
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LXVIII
14. Juli 2011, Oak Island, Kanada
W ie viel Zeit haben wir?«
»Ich weiß es nicht. Eine Viertelstunde, vielleicht. Vielleicht mehr. Oder auch weniger. Herrgott, Maria, ich weiß es nicht!«
Maria sah, wie ihr Vater verzweifelt auf dem Stuhl hin und her ruckelte. Aber die Kabelbinder, mit denen Cresswell und Kelly ihnen Arme und Beine gefesselt hatten, gaben kein bisschen nach.
»Du verletzt dich nur, Papa!«
»Verdammt, Maria, das ist mir doch scheißegal!« Er wirkte panisch. Maria blickte sich um. Nur wenige Meter entfernt lag die kleine, schmuddelige Pantryküche. In einer der Schubladen müsste es Messer geben. Aber als Maria versuchte, mit dem Stuhl näher heranzuruckeln, begriff sie, dass sie es nie schaffen würde. Zwischen ihr und den rettenden Messern lag Nakashima zusammengekrümmt auf dem Boden und röchelte leise, leichenblass. Das Leben strömte unaufhaltsam aus der Schusswunde in seiner Brust aus ihm heraus. Es konnte ohnehin nicht mehr lange dauern, bis das blaue Licht die Zündung des Roten Quecksilbers auslöste.
»Mr. Nakashima!«, rief Maria. »Können Sie mich hören?«
Nakashima regte sich ein wenig und versuchte, den Kopf zu heben.
»Mr. Nakashima!«, fuhr Maria eindringlich fort. »Hören Sie mir bitte gut zu. Es ist wichtig. Ich bin’s, Maria, erkennen Sie meine Stimme?«
Nakashima nickte.
»Wir sind gefesselt. Auf dem Tisch liegt eine Bombe aus Rotem Quecksilber, die in wenigen Minuten hochgeht. Wir brauchen Ihre Hilfe, Mr. Nakashima.«
Nakashima hauchte etwas Unverständliches.
»Ja, ich sehe Ihren Zustand, Mr. Nakashima. Aber ich bitte Sie, versuchen Sie, sich aufzurichten. Sie müssen nur zwei Schritte machen und uns ein Messer aus dieser Pantryküche besorgen. Haben Sie das verstanden?«
Nakashima nickte. Aber er rührte sich immer noch nicht, als habe er erneut das Bewusstsein verloren.
»Mr. Nakashima!«, flehte Maria, während ihr Vater sie nur angespannt anstarrte. »Uns läuft die Zeit davon!«
Sie sah nun, dass Nakashima sich rührte.