Collector’s Pack
Ellenbogen: der Löwenmann.
Die Figur wirkte so lebendig wie ein Jäger vor einem Kampf. Ein Mann, aufrecht in angespannter gerader Haltung, mit dem Kopf eines Löwen. Ein Anführer. Ein großer Zauberer mit der Kraft des Löwen. Die Figur war alt, wie ’Ma an den Spuren des Gebrauchs sehen konnte, und sie strahlte etwas aus, dass ’Ma plötzlich bis in ihr Innerstes frieren ließ und jede Freude aus ihrer Brust vertrieb. Aber sie wusste auch, dass ihre lange Wanderung nun endlich zu Ende war. Zitternd vor Angst öffnete sie ihre Faust und reichte Feuerhaar den blauen Stein.
’No und seine beiden letzten Jäger fanden ihre Leiche zwei Sonnen später am Ufer des schnellen Wassers. Oder vielmehr das, was die Tiere von ihr übrig gelassen hatten. Obwohl ’No es bereits geahnt hatte, fuhr ihm der Schmerz in die Brust wie ein Speer. Er sank auf die Knie und stieß einen klagenden Schrei aus. Stöhnend klaubte er ’Mas blutige Überreste auf und trug sie zurück ins Lager. Ihren blauen Stein fanden sie nicht.
’No wollte Rache. Aber als er mit ’Ge und ’Eo das Lager der langen Jäger erreichte, waren diese bereits fortgezogen. Sie hatten fast alles zurückgelassen, waren offenbar in großer Eile aufgebrochen. Außer sich vor Wut durchsuchte ’No das Lager und die anliegende Höhle nach ’Mas Himmelsstein. ’Ge und ’Eo hörten noch seinen Schrei. Als sie in die Höhle stürmten, sahen sie, wie ’No sich offenbar unter großen Schmerzen am Boden wand, als ob er gegen ein unsichtbares Raubtier kämpfte. In einer Felsnische stand der Löwenmann und starrte hart und unbarmherzig auf die Jäger herab, sah ungerührt zu, wie ’No sich in größter Qual seinen eigenen Speer in die Brust rammte und stöhnend zusammenbrach.
’Mas Clan verbrachte noch einen Winter in der Höhle auf der anderen Seite des Tals. In jenem Winter starben die beiden Kinder, die Alten, zwei Frauen und ein Jäger. Die Überlebenden machten sich auf, bessere Jagdgründe zu finden. Doch auch sie überlebten den nächsten Winter nicht. Sie verhungerten, erfroren, ertranken, wurden totgetrampelt oder krank. Oder wie ’No und ’Ma eines Nachts von dem unsichtbaren Löwenmann zerfleischt.
Und als der Clan nicht mehr existierte, zog das unsichtbare, entfesselte Übel weiter zum nächsten Clan und dann weiter, immer weiter, bis nach wenigen Wintern ’Mas Volk nicht mehr existierte. Aber der Löwenmann war noch da, erlöst durch ’Mas Tausch, und er beschloss, Feuerhaar und den blauen Stein zu finden, um für alle Zeiten frei zu sein.
VIII
8. Juli 2011, Rom
D er blasse, kahl geschorene Mann mit der Sonnenbrille mischte sich unter die Gruppe Priester, die gerade ihre Koffer vom Gepäckband geholt hatten, und half dem ältesten von ihnen beim Tragen. Er sah die Überwachungskameras und die bewaffneten Polizisten überall und hoffte, unauffällig und rasch die Zollgrenze am Flughafen Ciampino zu durchqueren. Er hatte Glück. Die Sicherheitsstufe war zwei Tage zuvor nach Wochen höchster Alarmbereitschaft herabgesetzt worden, und die Zollschleuse blieb zur Mittagszeit ohnehin nur mit einem Beamten besetzt, der sich gelangweilt darauf konzentrierte, seine Uniform fusselfrei zu halten und dabei möglichst kernig auszusehen.
Che bella figura!
Immer eine gute Figur machen, immer den Schein wahren, gut aussehen, selbst wenn alles den Bach runtergeht. Peter hatte diese uritalienische Lebensphilosophie in seinen ersten Jahren in Rom noch verspottet, später jedoch verstanden, dass sie ein trotziges Relikt orientalischer Vorstellungen von Respekt und Würde war. Tüchtig durchweicht von Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, immer nach dem Motto »Die Lage ist hoffnungslos – aber nicht ernst«. Das hatte Peter gefallen, und er hatte begonnen, die Spielregeln der italienischen Gesellschaft ernst zu nehmen. Er konnte demnach davon ausgehen, dass ein international gesuchter Topterrorist in einem gut sitzenden Anzug und mit einer modischen Sonnenbrille immer noch viel weniger auffiel als das deutsche Lehrerehepaar in khakifarbener Outdoorkleidung, das im Flugzeug hinter ihm gesessen hatte und seine Städtereise in das verwundete Rom wie eine Expedition in ein Kampfgebiet anging.
Da er sich innerhalb des Schengen-Raumes der Europäischen Union bewegte, entfiel die Passkontrolle. Peter hatte seinen falschen Diplomatenpass trotzdem griffbereit und achtete darauf, sich zügig, doch nicht zu hastig zu bewegen. Er wusste, welch hohes Risiko er hier einging,
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