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Collector’s Pack

Collector’s Pack

Titel: Collector’s Pack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Giordano
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richtete seine ganze Konzentration auf den Schatten, der sich vor dem Feuerschein des brennenden Vans abzeichnete.
    Du sollst nicht töten.

XXI
    10. Juli 2011, Annapurnagebiet, Himalaja
    A ng Lhakpa Gyaltsen hockte auf seinem Lieblingsplatz an einer Biegung des Pfades und blickte über das Tal, in dem er aufgewachsen war. Das Kali-Gandaki-Tal, das im Westen vom Massiv des Annapurna-Himal verschlossen wurde und das mit seinen tausend Metern über dem Meeresspiegel so tief lag, dass es zu beiden Seiten des Tals siebentausend Meter hinaufging. Ein kleiner Haufen runder Steine, in die das Mantra Om mani padme hum eingraviert war, und ein Bündel Lhatse , bunte Gebetsfahnen, die leise im Wind knatterten, markierten die Stelle. Ang Lhakpa Gyaltsen hatte seine halb gefüllte Essensschale neben sich abgestellt und genoss den Ausblick. Der Platz lag günstig. Zum einen wegen der Aussicht, zum anderen, weil ihn hier niemand vom höher gelegenen Kloster aus sehen und beim Abt wegen Müßiggangs anschwärzen konnte. Jedes Mal, wenn er nach dem morgendlichen Rundgang im Dorf mit der gefüllten Essensschale wieder in sein Kloster zurückkehrte, gönnte er sich diese kleine Pause, um etwas für fünfzehnjährige Jungen völlig Normales zu tun, selbst wenn sie buddhistische Mönche waren: Er träumte von einem Mädchen. Er träumte von Dawa Zangmo. Von seinem Lieblingsplatz aus konnte er die Dächer des Dorfes erkennen, wo sie gerade ihren kleinen täglichen Verrichtungen nachging. Vor einem halben Jahr hatte sie ihn heimlich geküsst. Am Tag seiner feierlichen Novizenzeremonie, als man ihn festlich geschmückt wie Prinz Gautama zur Pagode begleitet hatte, um ihm kurz darauf den Kopf zu scheren. Seitdem fiel Lhakpa Gyaltsen das Klosterleben mit jedem Tag schwerer, und wenn nachts aus dem Tal das ferne Bellen der Mastiffs, die die bösen Geister vertrieben, zu ihm heraufklang, stellte er sich vor, wie es wäre, ihre Hand zu halten.
    Dawa Zangmo. Wie bei den Sherpa üblich, trug sie den Wochentag ihrer Geburt im Namen. Den Montag. Ihr Name bedeutete »Mond« und »Klugheit«. Und genau das war sie: So schön wie der silbrige Vollmond über dem Gipfel des Annapurna und so klug wie ein Abt.
    Lhakpa Gyaltsen fand, dass sie beide gut zusammenpassten, schon ihrer Namen wegen. Seiner bedeutete »flüssige Sprache« und »Mut«, also alles, was einen großen Führer ausmachte. Obwohl der Abt die jungen Mönche ständig zu Genügsamkeit und Bescheidenheit anhielt, den wichtigsten Tugenden des achtfachen Weges, träumte Lhakpa Gyaltsen jeden Tag davon, ein großer Führer seines Volkes zu werden, zumindest Arzt oder Lehrer, und mit Dawa Zangmo das Tal zu verlassen und in eine richtige Wohnung nach Kathmandu zu ziehen.
    Natürlich würden sie auch Kinder haben, klar, aber für Kinder interessierte sich Lhakpa Gyaltsen im Augenblick nicht sonderlich. Er interessierte sich viel eher dafür, wie Dawa Zangmo wohl nackt aussehen würde, wie sich ihre Haut anfühlte und wie er es anstellen sollte, dass sie ihn während seiner Zeit im Kloster nicht vergaß.
    Ein Geschenk musste her. Etwas ganz Besonderes. Etwas, das sowohl ihrer Schönheit als auch ihrer Klugheit schmeichelte. Und Lhakpa Gyaltsen wusste auch schon, was. Ein Leontopodium himalayanum , ein Himalaja-Edelweiß. Dawa Zangmos Lieblingsblume. Jetzt im Juli begann ihre Blüte, und Lhakpa Gyaltsen kannte eine Wiese, wo die Pflanze wuchs. Das Problem war nur, dass diese Wiese gut dreitausend Meter höher lag und er sich einen gewaschenen Anschiss des Abtes einfangen würde, wenn er erst wieder am Abend ins Kloster zurückkehrte.
    Lhakpa Gyaltsen kaute auf seiner Unterlippe und überlegte, was er tun sollte. Schließlich entschied er, dass er es drauf ankommen lassen und dem Abt später irgendwas von einer Meditation am Berg erzählen würde. Entschlossen, seinem Namen alle Ehre zu machen, langte Lhakpa Gyaltsen in seine Essensschale, stärkte sich noch einmal vor der anstrengenden Tour und ließ die schwarzlackierte Bambusschale dann an der Biegung des Pfades zurück, wo man sie zwei Tage später fand.
    Nur mit einfachen Gummilatschen an den nackten Füßen und einem abgewetzten Pullover gegen die Kälte geschützt, begann Lhakpa Gyaltsen den Aufstieg, folgte einem alten, gewundenen Pfad, der sich steil an den Hängen in die Höhe schraubte. Trotz des sommerlichen Klimas wurde es allmählich empfindlich kühl. Dennoch stieg Lhakpa Gyaltsen tapfer weiter, stellte sich vor, was Dawa Zangmo sagen

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