Collins, Suzanne
Lügen entwirren. Aber ich
begnüge mich mit etwas, das ich kann.
»Hast du schon gegessen?«, frage ich. Er schüttelt unmerklich
den Kopf. Ich öffne eine Dose Hühnersuppe mit Reis und reiche sie ihm, behalte
aber den Deckel, falls er sich womöglich die Pulsadern aufschneiden will. Er
setzt sich auf, führt die Dose zum Mund und schüttet sich den Inhalt in den
Hals, fast ohne zu kauen. Am Dosenboden spiegeln sich die Lämpchen der
Maschinen, und da fällt mir etwas ein, das mir seit gestern im Unterbewusstsein
herumschwirrt. »Peeta, als du gefragt hast, was mit Darius und Lavinia passiert
ist, und Boggs antwortete, dass deine Erinnerung stimmt, da hast du doch
gesagt, das hättest du dir schon gedacht. Weil da nichts Leuchtendes dran
gewesen sei. Was hast du damit gemeint?«
»Ach, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll«, sagt er.
»Anfangs war alles ein völliges Durcheinander. Mittlerweile kann ich manches
wieder ordnen. Ich erkenne ein Muster. Die Erinnerungen, die durch das
Jägerwespengift manipuliert wurden, sind irgendwie komisch. Als wären sie zu
intensiv oder die Bilder wacklig. Weißt du noch, wie es sich anfühlte, als wir
gestochen wurden, damals in der Arena?«
»Ja. Die Bäume erbebten. Ein bunter Riesenschmetterling
tauchte auf. Und ich bin in eine Grube mit orangefarbenen Blasen gefallen.
Leuchtende orangefarbene Blasen.«
»Genau. Aber im Zusammenhang mit Darius und Lavinia gab es
nichts dergleichen. Deshalb glaube ich nicht, dass sie mir da schon das Gift
injiziert hatten«, sagt er.
»Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, sage ich. »Wenn
du das auseinanderhalten kannst, dann kannst du doch feststellen, was wahr ist
und was nicht.«
»Ja, und wenn ich Flügel hätte, könnte ich fliegen. Aber
den Menschen wachsen keine Flügel«, sagt er. »Wahr oder nicht wahr?«
»Wahr«, erwidere ich. »Aber Menschen können auch ohne
Flügel überleben.«
»Spotttölpel vielleicht.« Er isst die Suppe zu Ende und
gibt mir die Dose zurück.
In dem fluoreszierenden Licht sehen die Ringe unter seinen
Augen aus wie Blutergüsse. »Es ist noch Zeit. Du solltest ein wenig schlafen.«
Gehorsam legt er sich wieder hin und starrt auf die hin und her zuckende Nadel
einer Messuhr. Langsam, wie bei einem verletzten Tier, strecke ich die Hand aus
und streiche ihm eine Haarlocke aus der Stirn. Bei meiner Berührung erstarrt
er, zuckt aber nicht zurück. Also streiche ich weiter sanft über sein Haar. Es
ist das erste Mal seit der letzten Arena, dass ich ihn freiwillig anfasse.
»Du versuchst immer noch, mich zu beschützen. Wahr oder
nicht wahr?«, flüstert er.
»Wahr«, antworte ich. Irgendwie verlangt das nach weiteren
Erklärungen. »Das tun wir beide, du und ich. Einander beschützen.« Eine Minute
später ist er eingeschlafen.
Kurz vor sieben wecken Pollux und ich die anderen. Alle
gähnen und seufzen. Aber zwischen all den Aufwachgeräuschen schnappen meine
Ohren noch ein anderes Geräusch auf. Eine Art Zischen. Vielleicht Dampf, der
aus einem Rohr entweicht, oder das ferne Rauschen eines Zugs ...
Ich gebiete den anderen zu schweigen, damit ich genauer
hinhören kann. Da ist es, ein anhaltendes Zischen, ja, aber es ist nicht nur
ein einzelner gedehnter Laut. Eher so, als ob viele Münder ausatmen und dabei
Wörter bilden würden. Ein einziges Wort. Das durch die Tunnel hallt. Ein Wort.
Ein Name. Immer und immer wieder.
»Katniss.«
Die Galgenfrist ist zu Ende. Offenbar hat Snow die ganze
Nacht hindurch graben lassen. Sobald das Feuer gelöscht war. Sie haben Boggs'
verstümmelte Leiche gefunden und sich kurz in Sicherheit gewiegt, doch als die
Stunden vergingen und sie keine weiteren Trophäen fanden, wurden sie langsam
misstrauisch. Es dämmerte ihnen, dass sie hinters Licht geführt worden sind. Präsident
Snow kann aber nicht zulassen, dass es so aussieht, als hätte man ihn zum Narren
gehalten. Ob sie erst unsere Flucht ins zweite Apartment verfolgt oder gleich
vermutet haben, dass wir in den Untergrund gegangen sind, spielt keine Rolle.
Sie wissen jetzt, dass wir hier unten sind, und sie haben etwas von der Leine
gelassen. Vermutlich eine Meute Mutationen, die darauf abgerichtet sind, mich
zu finden.
»Katniss.« Die Stimme ist so nah, dass ich
auffahre und hektisch nach der Quelle suche, mit gespanntem Bogen, auf der
Suche nach einem Ziel. »Katniss.« Peetas
Lippen bewegen sich kaum, aber kein Zweifel, der Laut kam von dort. Gerade als
ich dachte, dass es ihm ein bisschen besser
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