Colombian Powder
einer der Treppen. Sie musste den Kopf in den Nacken legen und ihre Augen vor der Sonne beschatten, um bis zur Spitze des Bauwerks sehen zu können. Die Pyramide war bestimmt dreißig Meter hoch. Nina wurde bereits vom bloßen Hinaufschauen schwindelig. Sollte sie es tatsächlich wagen hinaufzusteigen?
Neben ihr kletterten Besucher auf allen Vieren die Treppe hinauf. Das schien die einzige Fortbewegungsmöglichkeit auf den extrem steilen Stufen zu sein. Nina erklomm ein paar davon, und es ging besser als erwartet. Nach einer kleinen Ewigkeit hatte sie mehr als die Hälfte geschafft und blieb stehen, um etwas zu trinken. Mit einer Hand klammerte sie sich an den verwitterten Stein, mit der anderen versuchte sie, ihre Trinkflasche aus dem Rucksack zu angeln. Sie stöhnte unter der Anstrengung, denn der Verschluss hatte sich irgendwo verhakt. Nach einem kräftigen Ruck kam ihr die Plastikflasche so abrupt entgegen gesaust, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor und sie reflexartig fallen ließ. Mit einem Poltern schlug das kostbare Nass weit unter ihr auf dem Sandboden auf. Nina hätte sich verfluchen können. Jetzt musste sie diese Anstrengung ohne Wasser meistern. Kurz überlegte sie, einfach wieder hinunterzuklettern, doch ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Sie musste sich dringend hinsetzen und verschnaufen. Außerdem begannen ihre Füße zu schmerzen. Also feuerte sie sich selbst an und stieg langsam weiter hinauf. Es waren nur noch zwei Stufen bis zur rettenden Plattform, als sich ihr eine Hand entgegenstreckte.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, hörte Nina eine Stimme von oben und wurde mit Schwung den letzten Meter hinaufgezogen.
»Danke«, keuchte sie und setzte sich erschöpft auf der Plattform nieder.
»Sie sind ja ganz blass um die Nase«, stellte ihr Gegenüber fest.
Überrascht erkannte Nina in ihm ihren Tischnachbarn im Restaurant des Schiffes. Zwar trug er eine verspiegelte Sonnenbrille, doch seinen Dreitagebart hatte sie sich eingeprägt.
»Meine Kräfte haben nicht ganz gereicht«, musste sie zugeben. »Ich habe mir den Aufstieg nicht so steil vorgestellt.«
»Sieht ganz so aus«, bestätigte der Mann und setzte sich neben sie. »Aber damit sind Sie nicht alleine. Sehen Sie sich mal den Mann dort drüben an.«
Tatsächlich lag einige Meter von ihnen entfernt ein beleibter Tourist auf dem Bauch und traute sich offensichtlich nicht, die Stufen wieder hinunterzuklettern. Etwas weiter unten stand eine Frau und feuerte ihn im Südstaatendialekt an. Stumm betrachteten sie die Szene eine Weile, wie der Amerikaner sich am Boden wälzte und es nicht wagte, einen Körperteil über die Kante zu schieben.
»Sie sollten etwas trinken«, befand ihr Tischnachbar. »Bei diesen Temperaturen dehydrieren Sie schneller, als Sie denken!«
Und der Typ sollte endlich Manieren zeigen und sich vorstellen, dachte Nina. Sie hasste es, wenn sie nicht wusste, mit wem sie es zu tun hatte.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, musterte er sie von der Seite.
»Wir kennen uns vom Schiff, nicht wahr?«
»Stimmt! Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«. Nina tat so, als müsse sie überlegen, woher.
»Klaus Eggerth«, war seine knappe Antwort. Nina ging davon aus, dass das sein Name war, und stellte sich mit ihrem gefälschten Namen ebenfalls vor. Unter gesenkten Lidern sah sie ihn verstohlen an. Trotz seiner grauen Haare konnte er nicht älter als Mitte vierzig sein. Er besaß eine sehnige, sportliche Figur, und sein braun gebranntes Gesicht strahlte eine beinahe jugendliche Vitalität aus.
Eggerth nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche. Ninas Mund fühlte sich bei diesem Anblick an wie Sandpapier. Doch diesem kauzigen Typen wollte sie ihr Missgeschick mit der Trinkflasche auf keinen Fall beichten. Um sich abzulenken, zog sie die Leinenschuhe aus und begann ihre heißen, brennenden Füße zu massieren. Die Haut war vom Leinen unter den Knöcheln rotgescheuert, und an beiden Fersen hatten sich Blasen gebildet.
»Nicht gut«, war Klaus Eggerths trockener Kommentar dazu. »Sie tragen ja gar keine Socken.«
»Messerscharf beobachtet«, konterte Nina. Irgendetwas an seinem Tonfall gefiel ihr nicht.
»Und warum tragen Sie keine Socken?«, fragte er mit ehrlicher Neugier.
»Nun … das hat medizinische Gründe. Socken stauen die Hitze am Fuß, und das ist schlecht für die Gefäße.« Auf so eine Frage war Nina nicht vorbereitet gewesen. In Wahrheit stand in der letzten Ausgabe der Lisa , dass Socken in
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