Colombian Powder
erzählte.
»Nun, die größte Armut habe ich in der Stadt gesehen, in der ich lebte«, antwortete er. »Die Favelas von Caracas sind die Hölle, wenn nicht noch schlimmer.«
»Du hast in Caracas gelebt?«
Marco nickte. »Meine Kindheit habe ich in Venezuela verbracht.«
»Warum?« Nina hoffte, nicht zu neugierig zu wirken, doch Marco hatte einen lockeren Plauderton angeschlagen, und so fiel es ihr nicht schwer, weiter nachzufragen.
»Meine Großmutter war Venezolanerin. Sie hat einen US-Amerikaner geheiratet, meinen Großvater. Meine Mutter schließlich einen Deutschen, meinen Vater. Er hat damals für die deutsche Botschaft im Land gearbeitet.«
Daher hatte Marco also diesen Hauch von Bronze in seiner Hautfarbe. Von seinen südamerikanischen Wurzeln. Nina fühlte sich geehrt, dass er ihr das alles so freigiebig erzählte.
»In deinen Genen hast du also gleich mehrere Kulturen vereint.«
Er sah sie lächelnd an. »Stimmt. Es wäre schön, wenn das Leben dadurch leichter wäre.«
Während ihrer Unterhaltung tauchte aus dem Dunst allmählich gut erkennbar Cozumel auf, eine Insel, die dem mexikanischen Festland vorgelagert ist. Dort würde die Diamond Dolphin in Kürze vor Anker gehen. Bald erreichten sie eine steinerne Pier, die wie ein gekrümmter Finger weit ins Meer hinausragte. Die letzten Minuten schwiegen die beiden und beobachteten von ihrem Aussichtspunkt aus fasziniert das Hafenmanöver. Unter sanftem Rucken kam der Schiffsriese schließlich zum Stillstand.
Marco sah auf die Uhr. »Ich fürchte, wir müssen unsere Joggingrunde verschieben. Ich habe dich vom Training abgehalten, tut mir leid.«
Nina winkte lässig ab. Sie würde niemals zugeben, dass ihr die Unterhaltung mit ihm hundert Mal besser gefallen hatte.
»Mein Vater wartet auf mich«, sagte Marco, als sie beim Lift ankamen. »Du gehst doch auch an Land?«
»Selbstverständlich. Ich habe mich zu dem Ausflug nach Chichen Itza angemeldet.«
»Tatsächlich? Mein Vater fährt auch mit.«
»Und du nicht?«
Marco schüttelte den Kopf. »Ich habe diese Ruinen schon gesehen.«
Nina nickte, war aber enttäuscht, dass er nicht mit dabei sein würde.
In ihrer Kabine fand Nina eine Notiz von Beate, auf der stand, dass sie bereits zum Tauchausflug aufgebrochen war. Schnell zog sie sich um und packte die Sachen für den Landgang. Kurz darauf kletterte sie in der langen Reihe der Passagiere in eines der bereitstehenden Tenderboote, das sie ans Festland zu dem Küstenort Playa del Carmen bringen würde.
Direkt hinter dem Hafengebäude warteten mehrere Ausflugsbusse auf die Gäste der Diamond Dolphin . Nina ließ sich an einem Fensterplatz nieder und betrachtete die Menschenmenge, die sich um die Busse versammelt hatte. Kurz glaubte sie, in dem Gewühl Jens zu entdecken. Nina runzelte die Stirn. Beate hatte ihr doch erzählt, dass er zum Tauchen gehen wollte. Deswegen hatte sie sich ja angemeldet. Sie überlegte, ob sie an die Scheibe klopfen sollte, doch sie konnte ihn nirgends mehr entdecken. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Kurz darauf schlossen sich die automatischen Türen, und der Bus fuhr ab. Ein Mann mit dem Schild GUIDE auf der Brust ergriff das Mikrofon und stellte sich als Fremdenführer vor.
Nach gut zwei Stunden Fahrt quer über die Halbinsel Yucatan erreichte der Bus Chichen Itza, die bekannteste Ruinenstadt der Maya-Kultur. Nina trat aus dem klimatisierten Bus ins Freie, und die Hitze traf sie wie ein Faustschlag. Anders als an der Küste wehte hier kein kühlender Wind, was die Mitteleuropäer unter ihnen ächzen ließ. Die Luftfeuchtigkeit tat ihr Übriges, und binnen Minuten lief ihr der Schweiß über den Rücken.
Der Reiseleiter zählte seine Schäfchen ab und betrat allen voran die Anlage. Nach einigen Metern durch lichten Buschwald standen sie plötzlich auf einer großen, freien Fläche. In allen Richtungen waren steinerne Gebilde und Ruinen zu sehen.
»Die ersten Bauten dieser Anlage wurden um das Jahr 750 nach Christi errichtet«, begann der Guide, nachdem sich die Gruppe aus dem Bus um ihn versammelt hatte.
Nina seufzte innerlich auf. Viel lieber würde sie alleine hier herumstreifen, anstatt reglos inmitten schwitzender Menschen verharren zu müssen. Die große Pyramide in der Mitte des Platzes lockte sie, und Nina überlegte nicht lange. Es war eine quadratische Stufenpyramide mit einer Treppe auf allen vier Seiten und einem kleinen Steingebäude auf der obersten Plattform. Ehrfürchtig stand Nina am Fuß
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