Colombian Powder
eingetroffen! Wie vermutet war Ferdinand schuld an der Verspätung gewesen, der Beate mit einer spontanen Willkommensparty in seiner Bar festgenagelt hatte. Das behauptete Beate jedenfalls. Obwohl Nina noch immer ein wenig grollte, hatte sie die Nachricht so befreit, dass sie zurück in ihrer Kabine endlich in einen entspannten Schlaf gesunken war. Wenigstens dieser Verdacht hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst – wahrscheinlich würde das auch mit dem Rest so sein. Nina war mit einem Mal bester Laune. Eine läppische E-Mail!
Sie ließ ihren Blick über das menschenleere Oberdeck schweifen. Hier vielleicht auf Marco zu treffen, darauf hatte sie gehofft, doch sie entdeckte ihn genauso wenig wie vorhin beim Frühstück. Stattdessen stieß sie auf Jens, der auf einer Sonnenliege lag und sich eine Zeitschrift vor die Nase hielt. Er war jedoch nicht so vertieft, wie er den Anschein gab, denn bevor sich Nina wieder davonstehlen konnte, rief er ihren Namen.
»Weißt du irgendetwas Neues von Beate?«
Sie nickte und sagte artig den einstudierten Text auf, dass der Gesundheitszustand von Beates Mutter noch immer kritisch war und die besorgte Tochter Tag und Nacht am Krankenbett wachte. Jens gab sich zufrieden.
»Gehst du heute gar nicht von Bord?«, wunderte sich Nina.
»Sieht es denn danach aus? Ich kenne Barbados von früheren Urlauben. Die Insel übt auf mich keinen Reiz mehr aus.« Er machte wieder das gleiche gelangweilte Gesicht wie zu Beginn der Reise.
»Ich bin auch nicht sicher, ob ich mir Bridgetown ansehen soll«, seufzte Nina.
Jens schob seine dicke Sonnenbrille auf die Stirn und sah sie prüfend an.
»Liebeskummer?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sieht man mir das so deutlich an?«
»Ich würde sagen, so deutlich wie einer Kuh, dass sie kein Karnickel ist.«
Bei diesem Vergleich musste Nina trotz aller Trübsal grinsen.
»Es ist der Schönling, nicht wahr?«
Nina nickte. »Hast du ihn heute schon gesehen?«
»Nein.« Jens zog die Brauen zusammen und dachte nach. »Aber gestern Abend.«
»Wirklich? Wo denn?« Nina horchte auf. Sie würde zu gerne erfahren, was Marco wichtiger gewesen war, als mit ihr zu Abend zu essen.
»Er war mit einem grauhaarigen Kerl unterwegs. Die beiden habe ich schon vor ein paar Tagen zusammen gesehen.«
»Grauhaarig?«
Jens überhörte die Frage und hob mit vorwurfsvoller Miene sein leeres Glas, als einer der Kellner an seiner Liege vorbeieilte.
»Kanntest du den Mann?« Vor Neugier lehnte sich Nina weiter vor.
Er schob grübelnd die Unterlippe vor. »Nur vom Sehen. Kann sein, dass es dein Tischnachbar im Restaurant war.«
Klaus Eggerth! Nina hielt für einen Moment die Luft an. Was hatte Marco denn mit dem zu schaffen?
»Das beste Mittel gegen Liebeskummer ist immer noch purer Alkohol«, stellte Jens fest. »Wir sind schließlich nicht umsonst in einer Rumgegend. Ich lade dich ein!«
Nina schüttelte stumm den Kopf. Sie war überhaupt nicht mehr in der Stimmung für eine weitere Unterhaltung. »Ich glaube, ich werde doch an Land gehen.«
»Mach das. Bridgetown ist wirklich sehenswert.«
Sie nickte Jens zum Abschied zu und war schon bei den Aufzügen, als er ihr hinterher rief.
»Komm schon Nina, lass den Typen links liegen! Das neue Jahr bringt dir tausend andere Männer!«
Das neue Jahr! Beinahe hätte Nina vergessen, dass in der kommenden Nacht der Jahreswechsel bevorstand. Auf dem Weg in ihre Kabine musste sie an ihren letzten Silvestertag denken. Vor 365 Tagen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen.
Sie konnte sich noch genau daran erinnern, dass es kurz nach Weihnachten saukalt geworden war und auf den Feldern eine dünne Schneedecke lag. Mit ihrer Schwester hatte sie einen langen Ausritt unternommen und war später in der warmen Küche gesessen, hatte Weihnachtskekse geknabbert und der alten Hannah beim Zubereiten des Silvestermenüs zugesehen. Diese Bilder wirkten plötzlich so fremd und weit entfernt, dass Nina unwillkürlich Tränen in die Augen traten. Friesland, die Mutter und alles was sonst noch dazugehörte – oh Gott, wie weit war das weg – nicht nur räumlich.
Lustlos zog sie sich um und verließ gegen Mittag das Schiff. Ein Taxi brachte sie ins Zentrum von Bridgetown. Das kleine Städtchen mit seinen schmalen Gassen und den stattlichen Bauten aus der Kolonialzeit gefiel Nina auf Anhieb. Sie schlenderte die Promenade des Jachthafens entlang, sah eine Weile einer Gruppe Einheimischer zu, die einen karibischen Soca-Dance zum Besten
Weitere Kostenlose Bücher