Colorado Saga
stürzte er ins Zimmer, warf die Arme um seine junge Frau und rief: »Sie sind hinter mir her.«
Serafina Marquez hatte die Exekution von der Kuppe eines kleinen Hügels beobachtet und gesehen, wie ihr Mann sein Gewehr zu Boden warf, wie Vater Gravez ihm das Leben rettete und wie Hauptmann Salcedo dann aufgeregt mit dem neuen Hauptmann der Polizei sprach. Sie begriff, daß der Hauptmann die Polizisten beauftragt hatte, Tranquilino als Unruhestifter zu verhaften und ihn dann »auf der Flucht« zu erschießen. Sie hatte bereits ihren Entschluß gefaßt. »Du mußt nach Norden gehen.«
»Wohin?«
»Lauf über die Felder und nimm in Guerrero den Zug. Aber gleich!«
»Und wohin soll ich fahren?«
»Über den Rio Bravo hinüber. Dort gibt es immer Arbeit.«
»Und was ist mit den Kindern?«
»Wir bleiben hier. Wir werden schon durchkommen.« »Aber... Serafina!«
»Geh schon!« schrie sie, und in drei Minuten hatte sie ihm etwas Essen eingepackt und ihm das ganze ersparte Geld gegeben. »Wenn du Arbeit gefunden hast, kannst du uns etwas schicken. So wie das Hernandez mit seiner Frau macht.« Dann schob sie ihn zur Tür hinaus.
Keine Minute zu früh, denn schon kamen die Polizisten das Temchic-Tal hinunter und fragten nach dem Haus von Tranquilino Marquez, dem bekannten Unruhestifter.
Tranquilino Marquez wanderte meist nur zur Nachtzeit. Schließlich erreichte er die Umgebung von Guerrero, wo er sich zwei Tage versteckt hielt und sich erst am Abend des zweiten Tages in die Stadt schlich, um etwas zu essen zu kaufen. In derselben Nacht wanderte er nach Norden weiter, wo die Lokomotiven anhielten, um Holz für die Feuerung und Wasser für die Kessel aufzunehmen. Dort gab es keine Wachen, und er kletterte unter einen der Güterwagen und band sich an den Eisenstangen fest, die die Wagen entlangliefen. In dieser ungemütlichen Lage gelangte er nach Casas Grandes, wo einige Bauern, die nach den Vereinigten Staaten unterwegs waren, ihn entdeckten.
»Komm raus!« flüsterten sie ihm zu und knieten nieder, um zu sehen, wie er es geschafft hatte, nicht unter die Räder zu kommen.
»Wir fahren drinnen!« sagte einer der Männer mit leiser Stimme. Sie zogen ihn heraus und zeigten ihm, wie man die Türen eines Güterwagens öffnete.
»In Ciudad Juárez klettern wir heraus, bevor die Polizei uns erwischt, und eine Stunde später sind wir über der Grenze.«
In jenen Tagen brauchte man keine Papiere, um von Mexiko nach Texas zu reisen. »Habt ihr Schußwaffen bei euch?« fragte sie ein überarbeiteter Zollbeamter am Nordende der Brücke. Aber sie hatten offensichtlich nichts bei sich außer den Kleidern, die sie am Leib trugen, und so ließ er sie durch, denn damals brauchten die Vereinigten Staaten Landarbeiter.
Einige machten sich nach Nordosten auf den Weg, um die reicheren Gebiete von Texas zu erreichen, andere gingen nach Westen, um über Arizona nach Kalifornien zu gelangen, aber einer, der schon einmal im Norden gewesen war, nahm Tranquilino zur Seite und flüsterte ihm zu: »Die guten Jobs findet man jetzt in New Mexico. Komm mit mir.«
Es folgte nun eine der ruhigsten Perioden in Tranquilinos Leben. Von Oktober 1903 bis März 1904 durchwanderte er New Mexico in nördlicher Richtung. Er befand sich ständig in der Gesellschaft Spanisch sprechender Menschen, und obwohl er nur niedrige Arbeiten finden konnte, bezahlte man sie ihm in bar, und bald erfuhr er das süße Geheimnis aller Mexikaner, die in den Vereinigten Staaten arbeiteten: »Du kannst in jeder Stadt zum Postamt gehen, sagst dem Mann am Schalter >Giro Postal<, gibst ihm dein Geld und bekommst von ihm ein Stück Papier, das du deiner Frau schickst. Er wird dir den Namen auf den
Umschlag schreiben, und sie bekommt das Geld.« Sechs Monate lang ging er von einem Postamt zum anderen, fragte nach dem Giro Postal und schickte Serafina und den Kindern alles, was er verdiente. Er wußte nicht, ob sie das Geld bekommen würden oder nicht. Für sich behielt er nur das Allernötigste. Las Cruces, Alamogordo, Carrizozo, Encino, Santa Fe, Taos, Costilla - in jeder dieser Städte verkauften ihm die Postbeamten die Giros und adressierten seine Briefe, wie sie das für Hunderte anderer Arbeiter auch taten.
New Mexico war ein so feiner Staat und sagte den Mexikanern so zu, daß er daran dachte, für immer hierzubleiben - Frau und Kinder nach Norden kommen zu lassen, um irgendwo in der Gegend von Santa Fe ein Heim für sie zu schaffen, wenn es ihm gelänge, eine Stellung
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