Colorado Saga
auch romantische Erzählungen über Capitán Frijoles, der sich irgendwo in der Sierra Madre verborgen hielt und die Regierungstruppen mit kühnen Ausfällen in Atem hielt. Tranquilino empfand freudige Erregung, als er daran dachte, daß der Rebell, den er nie gesehen hatte, noch am Leben war.
Der Zug war schon ein gutes Stück über Casas
Grandes hinaus, als Tranquilino sein erstes Erlebnis mit der richtigen Revolution hatte. Jemand hatte die Geleise der Northwest Line vermint. Lokomotive und Tender kamen über die Mine noch hinweg, aber die nächsten Wagen flogen in die Luft, ihre Fahrgaste wurden getötet. Nur der Wagen mit Tranquilino blieb unversehrt.
Die Überlebenden kletterten hinunter, um sich den Trümmerhaufen anzusehen, und bald kamen auch Soldaten aus einer im Süden gelegenen Garnison. Alle wurden verhaftet, und als später Oberst Salcedo, der jetzt den ganzen Bezirk unter sich hatte, auf dem Schauplatz erschien, begann er sogleich mit der Vernehmung der Verdächtigen. Alle erzählten die gleiche Geschichte: »Ich war auf der Heimfahrt, mi Coronet. Ich habe in Texas gearbeitet.« Es war offensichtlich, daß sie alle die Wahrheit sagten.
Grob packte Salcedo Tranquilino am Arm, starrte ihn an, ohne ihn wiederzuerkennen, und knurrte: »Und du? Was hast du zu sagen?«
»Ich bin unterwegs nach Hause. Ich komme aus Colorado.«
»Wo ist das?«
»Nördlich von Texas.«
»Wohin fährst du?«
Tranquilino war nahe daran, »Santa Ines« zu sagen, mutmaßte aber ganz richtig, daß er damit Verdacht erregen oder sogar die Erinnerung an den Aufstand, der sich dort zugetragen hatte, wachrufen könnte. »Ich steige in Guerrero aus«, antwortete er, und Salcedo ging weiter.
Aber die Soldaten identifizierten drei Revolutionäre, stellten sie an die Wand und erschossen sie. »Das soll euch Heimkehrern eine Lehre sein«, sagte der Oberst. Nach einer Weile waren die Geleise wieder instand gesetzt, und die Reste des Zuges setzten die Fahrt nach Guerrero fort. Tranquilino stieg aus und machte sich zu Fuß auf den Weg nach dem schönen Temchic-
Tal. Kindergeschrei begrüßte ihn, als die ersten Häuser von Santa Ines vor ihm lagen. »Tranquilino Marquez ist wieder da!« Menschen umringten ihn, und einige Jungen riefen: »Victoriano! Das ist dein Vater!« Ein scheues kleines Kind trat vor. Tranquilino erkannte es nicht wieder. Es trug gute saubere Kleidung, für die sein Vater mit den Giros Postales gezahlt hatte. Die zwei starrten sich an wie Fremde.
Es war ein langer, ein behutsamer und freundlicher Besuch. Die Kinder sahen gesund aus. Serafina hatte das Geld gut verwaltet. In einer Schachtel hatte sie die Umschläge aus den fremden Städten aufbewahrt: Alamogordo, Carrizozo, Taos, Alamosa. Eine des Lesens kundige Nachbarin hatte ihr die Namen vorgesagt, und Serafina hatte gemeint: »Sie klingen wie mexikanische Städte.«
Vater Gravez freute sich, Tranquilino wiederzusehen. »Du bist ein edler Mensch - un hombre noble -, weil du deiner Familie drei Jahre lang immer Geld geschickt hast. Da gibt es andere...«
Tranquilino entdeckte, daß es ihm Freude machte, mit dem Padre zu sprechen. »Ist es wahr«, fragte Gravez, »daß man in den Estados Unidos nur sechs Tage in der Woche arbeitet und dazu noch den halben Sonnabend frei hat?« Tranquilino erklärte ihm die Arbeitsbedingungen und vergaß nicht zu erwähnen, daß jedermann zum Arzt gehen könne. »Bis zum Arzt sind es vier Meilen, und wenn man Geld hat, muß man bezahlen«, erzählte er. »Aber als Gutierrez ein Bein verlor, wurde er umsonst behandelt, und eine Amerikanerin in Alamosa schenkte ihm ein Paar Krücken.«
»So sollte es auch bei uns sein«, meinte Vater Gravez. Tranquilino wollte wissen, was der Priester davon hielt, wenn er Serafina und die Kinder mit nach Colorado nähme. »Nein«, antwortete Gravez, »Frauen und Kinder sollten in der Nähe ihrer Kirche bleiben.« Worauf Tranquilino entgegnete: »In Colorado fliegen keine Züge in die Luft.«
Das gab Vater Gravez zu und schüttelte betrübt den Kopf. »Vielleicht kommt die Zeit, wo du deine Familie nach Norden bringen mußt. Aber jetzt noch nicht.« Während die Wochen verstrichen und von den Unruhen im Norden nur ein schwaches Echo zu vernehmen war, entdeckte Tranquilino aufs neue, welchen Schatz er an Serafina hatte. Ihr sanft strahlendes, immer ausgeglichenes Gemüt erinnerte ihn an die sahnige Milch, die er in Alamosa zu trinken pflegte. In ihrer Jugend hatte sie wie ein Maultier auf den
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