Colours of Love - Verloren: Roman (German Edition)
nachsichtig.
»Machen wir eine Pause«, sagt er. »Es ist ja fast geschafft.«
Er sitzt am Ende des langen Esstischs, an den bestimmt fünfzehn Leute passen. Dort kann ich ihm gut die Bilder einzeln vorlegen oder zeigen – manche dürfen nicht liegen, weil sie zu empfindlich sind – und mit ihm darüber sprechen. Deswegen bevorzugt er diesen Platz, wenn ich da bin. Oft hat er dann einen abwesenden Ausdruck in den Augen und wirkt ein bisschen verloren an der großen Tafel, aber nicht heute. Heute ist er ungewöhnlich vital und mustert mich mit wachem Blick – was mir aber erst jetzt wirklich auffällt. Ich war einfach zu sehr mit mir beschäftigt, um es zu bemerken.
Er legt die Hand auf den Stuhl neben seinem. »Kommen Sie, setzen Sie sich einen Moment zu mir, Sophie.«
Ich tue es und streiche unsicher über den Rock meines gemusterten Kleides, das ich heute noch mal trage, weil mir langsam die Auswahl ausgeht und weil ich mir darin besser gefallen habe als in meinen korrekten Business-Kleidern. Ein Teil von mir ist sehr erleichtert über die Pause – ich kann mich wirklich kaum konzentrieren –, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen. Dank meiner Fahrigkeit verzögere ich alles, und das ausgerechnet heute, wo wir mehr schaffen wollten, weil Giacomo über das Wochenende, also morgen und übermorgen, Besuch von seiner Tochter bekommt und wir deshalb erst am Montagmorgen weitermachen können. Von den Bildern, die wir uns für den Vormittag vorgenommen hatten, sind zwar nur noch wenige übrig, aber es ist auch schon halb zwei, viel später als sonst.
Giacomo ist meine Nervosität natürlich nicht entgangen – wie auch? – und ich fürchte mich vor der Frage, die er mir auch quasi sofort stellt, als ich neben ihm sitze.
»Was ist denn heute los mit Ihnen? Ist alles in Ordnung?«
Seine Haushälterin Rosa, eine kleine, dünne Frau um die Fünfzig, erscheint genau in diesem Moment im Salon und serviert uns eine Tasse Kaffee. Sie macht nur wenige Worte, scheint jedoch einen sechsten Sinn dafür zu haben, wann wir etwas brauchen. Vorhin hat sie uns schon eine Suppe gebracht, gerade als ich wirklich Hunger bekam, und jetzt kommt die Unterbrechung auch gerade recht, weil sie mir noch einen Moment Luft verschafft, um zu überlegen, was ich auf Giacomos Frage antworten soll.
Ist alles in Ordnung? Nein, denke ich, ist es nicht. Seit gestern Abend fahren meine Gefühle Achterbahn, und das ist auch der Grund, warum ich heute so abgelenkt bin. Weil ich nicht aufhören kann, an diesen unsäglichen Kuss zu denken. Und an den Mann, der mich geküsst hat und der heute entgegen seiner Ankündigung nicht zu Giacomo gekommen ist.
Gestern habe ich mich noch die halbe Nacht im Bett gewälzt und bin den Abend in Gedanken wieder und wieder Minute für Minute durchgegangen, habe jedes kleine Detail gespeichert – Matteos Blicke, seine Gesichtsausdrücke, sein Lächeln, das, was er gesagt hat. Und auch jede Einzelheit unseres Kusses – seine Lippen auf meinen, seinen Geschmack in meinem Mund, seine Hände, die meinen Körper erkunden …
Ich habe mir eingeredet, dass ich nur nach einer Antwort darauf suche, was genau er von mir will. Was genau an diesem Kuss nicht echt war. Doch er hat sich echt angefühlt, und wenn ich überhaupt zu einer Erkenntnis gelangt bin, dann dazu, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll. Und dass ich ein Problem habe, falls Matteo jemals versuchen sollte, mich noch einmal zu küssen.
Weil ich zwar behauptet habe, dass ich es nicht will, aber gar nicht mehr sicher bin, ob das überhaupt stimmt. Und das bringt mich völlig durcheinander.
Ich hatte noch nie eine Affäre mit jemandem, mit dem ich beruflich zu tun habe. Oder besser gesagt: Ich hatte schon seit einer kleinen Ewigkeit mit überhaupt niemandem mehr irgendetwas. Wirklich vermisst habe ich das auch nicht. Wenn ich ehrlich bin, konzentriere ich mich lieber auf die Arbeit, die ich bisher aufregender fand als meine ziemlich unspektakulären kurzen Männergeschichten während des Studiums. Natürlich flirtet hin und wieder einer unserer Auftraggeber oder Käufer mit mir, aber es ist mir noch nie passiert, dass ich auch nur ansatzweise versucht war, das zu erwidern oder daraus mehr werden zu lassen. Und auch in meiner Freundschaft zu Nigel, die bislang noch völlig ohne Leidenschaft auskommt, hat mir nichts gefehlt. Für so etwas bin ich nicht der Typ – dachte ich.
Und dann kommt dieser hübsche Italiener und bringt mit einem einzigen
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