Colours of Love
zumindest hat sie es geschafft, mir genügend Rückgrat mitzugeben, dass ich jetzt aufstehe und bereit bin, meinem Schicksal die Stirn zu bieten.
Erst, als ich entschlossen die Beine aus dem Bett schwinge und mich hinstelle, fällt mir auf, dass es mir erstaunlich gut geht. Nach meiner gestrigen Trinkerei müsste mir eigentlich total schlecht sein und mein Schädel müsste brummen. Ich fühle mich auch irgendwie schlapp, mein Mund ist trocken, und ich stehe wackelig auf den Beinen. Trotzdem wundere ich mich, denn es könnte viel schlimmer sein.
Das Pyjama-Oberteil, das ich trage, reicht mir fast bis zu den Knien und ist wie ein Nachthemd. Meinen Slip habe ich noch an, den hat Jonathan mir also nicht ausgezogen.
Hastig gehe ich in das angrenzende Bad – ich muss zuerst einen Blick in den Spiegel werfen, bevor ich mich nach draußen wage – und staune, als ich sehe, wie luxuriös es eingerichtet ist, ganz in schwarz, mit einer riesigen verglasten Duschkabine und einer Wanne, in der man zu zweit liegen kann. Das Staunen weicht jedoch Entsetzen, als ich mich in dem Spiegel über dem geschwungenen Designer-Waschbecken sehe: meine Haare sind total durcheinander und meine Wimperntusche ist verschmiert, sodass meine Augen schwarz umrandet und verklebt aussehen. Ich wasche mich schnell und gründlich und bringe meine Haare notdürftig in Ordnung. Dann trinke ich etwas aus dem Hahn, weil ich plötzlich schrecklichen Durst habe, und spüle meinen Mund aus. Erst dann gehe ich zurück ins Zimmer.
Doch anstatt auf die Tür zuzuhalten, nehme ich noch einen kurzen Umweg zum Fenster, um nach draußen zu blicken und mich zu orientieren. Es ist auf jeden Fall eines der edleren Viertel der Stadt, also bin ich wohl tatsächlich in Knightsbridge. Direkt gegenüber liegt ein kleiner Park mit altem Baumbestand und einer hohen Hecke. Die Fronten der Stadthäuser, die ihn von allen Seiten umgeben, sind sehr gepflegt und zeugen von Reichtum. Auf den Balkonen und in den Eingangsbereichen vor den Haustüren, die meist von schwarz gestrichenen Eisengittern eingefasst sind, stehen Kübel mit Bäumen, Büschen und sogar Palmen.
Das Haus, in dem ich mich befinde, ist das einzige auf dieser Seite, das eine strahlend weiße Fassade hat, die zudem leicht gewölbt und mit Stuck verziert ist, sodass sie heraussticht. Die diversen runden Buchsbäume in Terrakottatöpfen, die vor dem Eingang arrangiert sind, heben es zusätzlich ab, machen es zu etwas ganz Besonderem. Wenn das hier wirklich Jonathans Haus ist, denke ich, dann passt es sehr gut zu ihm.
Ich hole noch mal tief Luft und spüre beim Einatmen ein hohles Gefühl in meiner Brust, das fast schmerzt. Dann drehe ich mich zur Tür um, bereit für das, was dahinter auf mich wartet.
Zunächst mal ist es nur ein breiter Flur, auf dessen Boden sich das edle dunkle Holzparkett des Schlafzimmers fortsetzt. Einige weitere Türen zweigen davon ab, aber ich halte auf die Treppe mit dem modernen Metallhandlauf zu, die nach unten führt. Eine Etage tiefer stehe ich in einem großzügigen Wohnbereich, der eher eine Zimmerflucht ist, denn es grenzt noch ein weiterer, genauso großer Raum an den, in dem ich stehe, und hinter einem durchscheinenden weißen Vorhang erkenne ich das Metallgitter eines Balkons. Beide Zimmer sind modern und sehr geschmackvoll eingerichtet, mit Couchen und Sesseln in harmonierenden, hellen Brauntönen, passenden Kommoden und Bücherregalen und einer puristischen, sehr teuer aussehenden Fernsehanlage, bei der nicht ein Kabel zu sehen ist und die sich nahtlos in das Raumbild einfügt. Edle Teppiche bedecken den Boden und alles wirkt aus einem Guss, so als wäre hier ein Innenarchitekt am Werk gewesen, der sein Handwerk versteht.
Aber das wirklich Beeindruckende sind die Bilder und Kunstwerke. An sämtlichen Wänden hängen ausdrucksstarke moderne Gemälde in satten Farben, die sofort die Blicke auf sich ziehen. Skulpturen aus interessanten Materialien, große und kleine, sind außerdem überall arrangiert, stehen in den Regalen und auf dem Boden.
Fasziniert lasse ich den Finger über ein mannshohes Kunstwerk aus filigranen, fächerartig zusammengeschweißten Eisenteilen gleiten, das mir am nächsten steht. Jonathan engagiert sich also offenbar nicht nur für Kunst, er besitzt sie auch.
Trotzdem ist es komisch, denke ich. Vielleicht habe ich, wie Annie mir vorgeworfen hat, zu viele Filme gesehen, die auf englischen Adelssitzen spielen – denn von einem zukünftigen Earl hätte
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