Columbus
Morgen können wir auslaufen.«
»Ich sehe schon«, sagt sie und streicht sich das Haar mit beiden Händen aus dem Gesicht. »Der Vogel klebt nun nicht mehr fest am Leim. Das Verlangen, eine neue Welt und damit dich selbst zu entdecken, ist stärker, als ich sein kann.«
»Was hast du da gesagt?«, fragt er und hat wohl nur mit halbem Ohr hingehört. »Eine neue Welt und damit mich selbst zu entdecken? Was meinst du?«
»Das neue Land, Cristobal - das bist du selbst. Etwas Vages und doch sehr Genaues, etwas, das aus der Nacht des ozeanischen Meers aufsteigt - wie ein Mann, um dessen Herkunft der Mantel des Dunkels gehüllt ist und der mit Lüge genauso geschickt umgeht wie mit Wahrheit. Nein, widersprich mir nicht. Ich liebe dich sehr. Küss mich noch einmal, und dann lasse ich dir ein Maultier satteln und Läufer mit Fackeln bestellen, damit sich niemand unterwegs ein Bein bricht. Ach, ich muss verrückt sein, dich ziehen zu lassen, und da ist nur eine ganz und gar ungewisse Hoffnung auf deine Wiederkehr.«
Was soll er ihr entgegnen? Die letzten Augenblicke vor der Trennung stehen sie stumm beieinander und lauschen auf die Geräusche der Insel, das Brausen der Brandung, das Rascheln des Winds in den Zweigen der Bäume und, von fern aus den Bergen, ein schrilles durchdringendes Pfeifen - die Guanchen unterhalten sich in Silbo.
Das rätselhafte Bordbuch
Wie viel Columbus seiner Freundin auch anvertraut haben mag - über eines wird er mit ihr mit Sicherheit nicht geredet haben: über den Kurs, den er segeln wird. Denn was er da macht, das widerspricht nicht nur strikt den Ordres von »oben«, sondern es kann sowohl ihn als auch seine Mannschaft um Kopf und Kragen bringen.
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Zunächst einmal beginnt die groÃe Reise nun wirklich.
Am Morgen des 6. September 1492 läuft die kleine Flotte aus, nachdem der Generalkapitän Gottes Segen erfleht hat - in ebenjener Kirche, in der Pedro de Vera das Massaker unter den Guanches angerichtet hatte.
Columbus hat seinen Kapitänen und Navigatoren sehr konkrete Anweisungen erteilt: Die Schiffe sollten stets in Sichtweite bleiben und jeweils morgens und abends beim Flaggschiff längsseits gehen, um neue Befehle entgegenzunehmen. Da ja, wie wir wissen, 750 Leguas und keinen FuÃbreit weiter als Entfernung vereinbart war, geht man davon aus, dass ab 700 Leguas bald die Küste in Sicht kommt. Columbus bestimmt, dass nach besagter Distanz die Schiffe zwischen Mitternacht und Tagesanbruch vor Anker gehen sollten, um nicht unversehens auf eine Küste aufzulaufen - eine weise und vorausschauende MaÃnahme.
Sodann verkündet er, dass die Königin für den Mann, der als Erster Land sichtet, eine lebenslange Jahresrente von 10 000 Maravedis ausgesetzt habe - und somit hoch motiviert, sticht man in See.
Im Voraus sei gesagt: Selten hat eine Entdeckungsreise unter einem so günstigen Stern gestanden, was die äuÃeren Bedingungen angeht. Während der ganzen Fahrt wurde kein Mann krank, und die Schiffe liefen, als sie denn die Zone der Passatwinde erreicht hatten, mehr als zehn Tage lang unaufhörlich unter vollen Segeln vor dem Wind. Es gab keine Havarien, Essen und Trinken waren genügend an Bord, man konnte die Verpflegung von Zeit zu Zeit durch den Fang eines Tunfischs oder von ein paar Makrelen auffrischen. Die Probleme, die sich bald ergeben sollten, waren anderer Natur. Die Männer waren auf einem Kurs, den ihrer Meinung zufolge noch nie ein Schiff gefahren war, und vor ihnen lag das Ungewisse. Wie leicht konnte die Suche nach Gold und Ruhm zu einer Reise ohne Wiederkehr werden!
Und nun führt Columbus ein libro de bordo - auch diario genannt -, ein Logbuch, das den Verlauf der Reise dokumentieren soll. Genauer gesagt: Er führt zwei dieser Logbücher.
Warum tut er das? -
Die kleine Flotte hat kaum den Hafen von San Sebastian verlassen, als eine spanische Karavelle mit einer Hiobsbotschaft heransegelt: Hinter dem Horizont soll ein portugiesisches Geschwader auf der Lauer liegen, um die Expedition zu stoppen.
Der König in Portugal hat natürlich seine Informationen über das spektakuläre Unternehmen erhalten, und die Majestät, die selbst nicht den Wagemut hatte, Columbus und seine Ideen zu fördern, will nun auf alle Fälle verhindern, dass Spanien sich die Sache an Land zieht.
Drei Tage manövriert der Generalkapitän in den Gewässern vor den Kanaren
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