Coma - Niven, J: Coma - The Amateurs
falsche Scham. Der Arzt hatte gesagt, dass es möglicherweise hilfreich wäre, wenn sie mit Gary reden würde. Es wäre schon vorgekommen, dass Komapatienten auf Stimmen reagierten, die sie erkannten. Als Angehörige einer Generation, die tat, was ihr die Ärzte sagten, redete Cathy also mit ihm. Hätte der beratende Arzt ihr mitgeteilt, es bestünde eine Chance von eins
zu zwei Milliarden, dass es Gary helfen würde, wenn sie sich ausziehen, auf den Stuhl klettern und sich den ganzen Tag lang ins Gesicht schlagen würde, hätte sie in diesem Augenblick splitterfasernackt auf dem Stuhl gestanden und zugeschlagen, bis entweder ihr Gesicht oder ihre Knöchel klein beigegeben hätten.
Es stimmte: Cathy konnte ihre Gefühle nur in Kitschpostkarten-Poesie, Kühlschrankmagneten-Philosophie, in Plattitüden und Gemeinplätzen ausdrücken. Aber bloß weil sie sich in Klischees formulierten, waren ihre Gefühle keineswegs weniger real. Die Intensität ihrer Liebe war etwas, von dessen Dimension der kinderlose, bewusstlose Gary emotional noch meilenweit entfernt war. Als sie mit einem feuchten Tuch den verkrusteten Speichel aus seinem Mundwinkel abtupfte und sein Dreitagebart dabei an der Unterseite ihres Handgelenks kratzte, wurde Cathy sich bewusst, was sie darum geben würde, den Platz mit ihm zu tauschen. Denn ihre Liebe für den Jungen war unermesslich, und ihr Wunsch, ihn leben zu sehen, wog schwerer als ihre eigene Seele. Also redete Cathy, redete und redete. Und wich bloß von seiner Seite, um den lebensnotwendigen Bedürfnissen nachzukommen: Nikotin, Koffein und dem Gang zur Toilette.
Sie ließ die Zeitung sinken und sah auf ihre Uhr. Der beratende Arzt, Dr. Robertson, musste jeden Augenblick hier sein. Sie hatten Gary heute Morgen noch einmal operiert, um Flüssigkeit abzusaugen. Irgendwas in der Art. Wo, zur Hölle, blieb P...
»Hallo Cathy. Sorry, ich habe mich etwas verspätet.«
»Hallo Pauline, Schätzchen«, sagte Cathy und erhob sich, um ihre Schwiegertochter zu umarmen.
»Wie geht es ihm?«
»Es geht ihm gut. Er schläft immer noch.« Er schläft. Cathy hatte das Wort »Koma« noch nicht einmal in den Mund genommen. So, wie Lee damals einfach nur »weggegangen« war, dachte Pauline.
Als am Samstagnachmittag der Anruf kam, wäre Pauline beinahe nicht drangegangen. Sie war allein zu Hause gewesen und hatte über ihr Handy gerade flehentlich auf Masterson eingeredet, aber das Telefon auf dem Nachttisch hatte einfach nicht aufgehört zu klingeln. Schließlich hatte sie sich über das Bett gebeugt und, als sie den Hörer abnahm, im Display die Telefonnummer des Golfclubs erkannt. Gary hatte sie auf Schnellwahl gespeichert. Ein alter Mann erzählte etwas von einem Unfall, einem Golfball, dem Krankenwagen. Mit der Welle an Schuld, von der sie dann bei seinem Anblick überrollt wurde, hatte sie nicht gerechnet.
»Hallo Mrs Irvine, Mrs Irvine.« Dr. Robertson stand im Türrahmen. Ein freundlicher Mann, dünn und hochgewachsen. Er sieht ziemlich intelligent aus, befand Cathy. Auch er war Golfer, wie er ihnen bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte.
»Hallo Doktor«, antworteten Pauline und Cathy im Chor.
»Wie geht es ihm heute Abend?«, fragte Robertson, während er auf sein Klemmbrett blickte. Die Frage war rhetorisch, und er hörte nur mit halbem Ohr hin, als Cathy davon zu erzählen begann, wie sie Gary aus der Zeitung vorlas. Es war wichtig, ihnen etwas zu tun zu geben. Krebspatienten sagte man, sie sollten viel Obstsaft trinken – als wolle man eine Pershing-Rakete mit einem Regenschirm abwehren. Aber man musste den Leuten etwas geben, was ihnen Hoffnung gab. »Gut, gut«, sagte Dr. Robertson. »Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Damen.« Er signalisierte ihnen, sich zu setzen, und lehnte sich selbst gegen das Fenster, einen braunen Umschlag vor der Brust und einen wunderschönen Frühlingsabend im Rücken.
Wie sollte er es ihnen erklären? Ein großer Teil von Robertsons Arbeit bestand darin, Leuten, die schon Schwierigkeiten damit hatten, der Handlung eines Hollywoodfilms zu folgen, die Implikationen komplexer medizinischer Traumata zu erläutern. Er warf einen Blick in die Akte – »Pterygoid … gerissene
Arteria meningea … extradurale Hämorrhagie … 10 Punkte auf der GCS … erhöhter interkranialer Druck … Temporallappen … Trepanation …« – und suchte nach der angemessenen Formulierung, während er das blau-weiße Röntgenbild von Garys Schädel gegen das Fenster hielt. »Also,
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