Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
dem alle wissen, wie kurz er sein wird. Ähnlich wie in der Commedia ist der Zeitrahmen eng gespannt. Das Decameron gibt außer in der Einleitung und im Vorwort zum vierten Tag keine Ich-Erzählung, sondern Perspektivismus. Die zehnfach gebrochene Welterfahrung teilt sich auf in viele weitere Sichtweisen und Situationen. Amor ist nicht etwa machtlos geworden; er tritt vielförmig, übermächtig und bedrohlich auf. Schließlich war er auch bei Dante ein grober und rauher Geselle, ängstigend und nachdenklich machend. Amor wird nicht nur und nicht primär mit ›Glück‹ assoziiert. Wie mit anderen großen Weltmächten – Wissen, Zufall, Familie – müssen Frauen lernen, mit ihm umzugehen, damit er nicht schadet (Vita nova, 4, 1–7).
Man hat im Blick auf Boccaccios Proemio von ›Feminismus‹ gesprochen. Doch ist genauer hinzusehen: Dante hat seine Geliebte höher gestellt als je vor ihm ein Dichter seine Frau. Boccaccio zeigt Mitleid, will aufmuntern und trösten. Er fordert für Frauen keine sozial-politische Emanzipation, kein Wahlrecht, kein eigenes Konto; er betreibt literarische Emanzipation, die ins Leben einschneidet. Jetzt hat er Abstand und Durchblick; er will, daß Frauen einen freieren Blick bekommen. Er will sie nicht von sich selbst ablenken durch Erzählstoff aus fremden Leben. Die hundert Geschichten lehren sie, selbst zu beurteilen, was ihnen nutzt und was ihnen schadet.
Boccaccios Dichtung steht im Kampf mit Fortuna, von Anfang an, und sie soll den Frauen helfen, ihren Kampf mit Fortuna besser zu bestehen. Fortuna ist roh; sie schlägt mit Vorliebe auf die weniger Widerstandsfähigen ein, und das sind die Frauen. Boccaccios Erzählungen gehen an gegen diese Sünde der Fortuna, il peccato della Fortuna , daß sie die Schwachen besonders hart trifft.
3.
Die Frau in der ›Commedia‹ und im ›Decameron‹
Es ist ein Werbegag, bestimmte Lesergruppen verbal auszuschließen und sie damit anzulocken, nach dem Motto, ein Film sei für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet. Natürlich wollten Männer ein Buch lesen, das nur für Frauen geschrieben worden ist. Sie haben es getan, besonders die reichen Kaufleute von Florenz, die ihre Welt darin konkreter wiederfanden als in der Commedia. Das Decameron war sofort ein großer Erfolg, ohne daß Boccaccio dadurch reich geworden wäre; er blieb arm bis zum Schluß.
Boccaccio erklärt ausdrücklich, es sei ihm gleichgültig, ob man von Novellen spreche oder von favole oder parabole oder istorie (Proemio 13). Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Leser mit einer Theorie der literarischen Gattungen zu beschäftigen; das war eine deutsche Wissenschaftsmarotte der siebziger und achtziger Jahre. Er schreibt für Frauen, die lieben, nicht für alle. Und sie sollen ihr Vergnügen haben, aber den § 14, der dies ankündigt, muß man genau lesen. Denn er redet nicht nur von Vergnügen, sondern sie sollen Freude haben und nützlichen Rat finden, parimente diletto … e utile consiglio . Boccaccio präzisiert dann, worin der Nutzen besteht. Es ist kein Nutzen in der Außenwelt, sondern sie können sich im Leben orientieren lernen; sie können, wenn sie wollen, erkennen, was zu fliehen und was zu erstreben ist. Diese Formel – was zu fliehen, was zu erstreben ist – ist eine klassische, antik-mittelalterliche Formel für philosophische Ethik und Politik; sie findet sich in philosophischen Texten immer wieder, von Cicero bis Thomas von Aquino. Boccaccio erkannte sie zweifellos als solche. Wer diese Formel aus dem philosophischen Sprachgebrauch nicht erkennt, hört nur etwas von Vergnügen und glaubt ein Argument zu haben, Boccaccios Unterhaltungskunst gegen die E-Kunst Dantes absetzen zu können. Aber Boccaccio bietet den Frauen Vergnügen und gleichermaßen , parimente , eine anschauliche Moralphilosophie für Laien. Er gibt eine neue Formel für das alte poetische Programm des prodesse et delectare . Literaturwissenschaftler konnten das verkennen oder übersehen, weil ein Hintergrundkonzept am Werk war, das ihrer Kinderstube entstammte; in ihm galten Vernunft und Ethik als Gegensatz zum Vergnügen. Aber bei Dante und Boccaccio geht es wie bei Aristoteles in der Ethik um Glück.
Hundert Geschichten laden die Frauen ein, über ihre wahren Interessen nachzudenken. Sie können aufmerksam werden auf ihre gesellschaftliche Position. Denn sie sind nicht wie Beatrice die vergöttlichte Frau, die in ewiger Freude lebt und vollkommen über die Welt
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