Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Commedia steht, so steht Griselda am Ende, aber in einer von hundert Situationen. Kann man noch sagen: als deren höchste? Hierarchien werden im Decameron weitgehend abgebaut: Zwischen Fürst und Untertan, Vater und Tochter, Richter und Angeklagtem. Das Hierarchiemodell des Dionysius ist unkenntlich geworden – im Decameron, sonst kennt der gelehrte Boccaccio natürlich das Buch des Dionysius über die himmlischen Hierarchien. [855]
Im Decameron kommen alle Arten von Männern und Frauen vor, auch solche, die im Zorn frauenfeindlich, frauenverachtend reden, besonders in der Novelle 8, 7. Boccaccios spätere Schrift Corbaccio stellt dieses Problem in dringlicher Form, auch einige Stellen in den historisch-moralistischen lateinischen Schriften der späten Zeit. Gab es im Denken und Gestalten Boccaccios eine Wende? Ist er im Alter zurückgegangen zur traditionellen Misogynie? Ich lasse dieses Problem hier offen. Zum Corbaccio nur soviel: Corbaccio heißt ein Unglücksrabe, ein unzufrieden-unglücklicher Typ. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn er in der Tonart der traditionellen Frauenverachtung redet.
Der zehnte Tag des Decameron ist keine Apotheose einer Frau im Paradies, aber er ist herausgehoben; er exemplifiziert die aristotelische Tugend der megalopsychia , die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nicht nur beschreibt, sondern verherrlicht, bei der aber weder er noch einer seiner Kommentatoren an ein einfaches Bauernmädchen wie Griselda gedacht hätte. Boccaccio kannte die Nikomachische Ethik gut, wie der Codex A 204 inf. der Biblioteca Ambrosiana beweist: Er war so sehr an ihr interessiert, daß er sich mit eigener Hand die ganze umfangreiche Erklärung des Thomas von Aquino dazu abschrieb. [856] Die Griselda der letzten Novelle erweist sich als großgesinnt, ihrem fürstlichen Gemahl überlegen, insofern endet auch das Decameron mit der Krönung einer Frau. Es ist eine Rangerhöhung nach Kriterien der antiken Philosophie, nicht im Himmel, sondern im Speisesaal des Schlosses von Sanluzzo. Griselda ist ausgezeichnet mit dem höchsten Wert der Philosophen. Boccaccio versetzt die Unstudierte in den Himmel der antiken Ethik: Das arme Bauernmädchen übt die Tugend der Fürsten, die Dante an Farinata bewundert hatte. Wer sagt, ihre Tugend passe nicht ins Decameron, vergißt, daß Großgesinntheit ( megalopsychia ) der Höhepunkt der Ethik des Aristoteles war.
4.
Dantes Beatrice, Boccaccios Elisabetta
Im Decameron 4, 5 erzählt Filomena diese Geschichte:
4 Es lebten in Messina drei Brüder. Die jungen Männer waren Kaufleute, und sie hatten von ihrem Vater, der aus San Gimignano stammte, ein ziemlich großes Vermögen geerbt. Sie hatten eine Schwester namens Lisabetta, eine sehr schöne und anmutige Frau, die sie nur aus irgendeinem zufälligen Grund noch nicht verheiratet hatten.
5 Außerdem hatten die drei Brüder in einem ihrer Lagerhäuser einen jungen Mann aus Pisa namens Lorenzo, der alle ihre Geschäfte leitete und durchführte. Da er ziemlich gut aussah und freundlich im Umgang war, hatte er schon öfter die Blicke Lisabettas auf sich gezogen, doch mit einem Male begann er ihr außerordentlich gut zu gefallen. Lorenzo bemerkte das, ließ nach und nach seine anderen Liebschaften fallen und richtete fortan seinen Sinn nur auf sie. Sie fanden aneinander gleichermaßen Gefallen, und so kam es, daß sie recht bald miteinander trieben, was beiden am meisten Spaß machte, stets darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden.
6 Das ging so eine Weile. Sie hatten eine angenehme Zeit und viel Vergnügen miteinander, immer im geheimen, bis eines Nachts der älteste der drei Brüder sah, wie Lisabetta, ohne ihn zu bemerken, in das Zimmer schlich, in dem Lorenzo schlief. Diese Beobachtung mißfiel ihm sehr, aber da er ein gescheiter junger Mann war, wollte er, immer auf die Familienehre bedacht, kein Aufhebens machen oder irgend etwas sagen, sondern verbrachte die Zeit bis zum Tagesanbruch damit, die Sache nach allen Seiten hin zu überlegen.
7 Am nächsten Morgen erzählte er seinen Brüdern, was er in der vergangenen Nacht beobachtet hatte. Sie beratschlagten lange. Schließlich beschloß er mit ihnen, die Sache totzuschweigen, um ihrem guten Ruf und dem der Schwester nicht zu schaden. Sie wollten so tun, als habe er nichts gesehen und gehört, bis der Zeitpunkt käme, zu dem sie diese Schande ohne Schaden für die Firma aus der Welt schaffen könnten.
8 Sie hielten sich an die Verabredung: Sie
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