Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
orientiert ist; Boccaccio beschreibt die reale gesellschaftliche Lage der Frauen und damit auch die der Männer. Er zeigt mehr soziologisches Interesse, aber er beschreibt nicht wertneutral die soziale Realität zwischen Feudalherren, Klerikerinteressen und Kommunen. Er verdammt sie wie Dante. Er schreibt nicht affirmativ die Poesie der mercanti , sondern ihre schonungslose Analyse im Licht absoluter ethisch-politischer Konzepte, was das Wort ›Realismus‹ eher verzeichnet als charakterisiert.
Boccaccio weitet den Blick auf alle sozialen Schichten. Dante sagte selbst, er spreche nur von den Großen. Im Decameron gibt es Könige und Markgrafen, aber auch Bäcker, Bankiers und ihre Frauen. Boccaccio erzählt keine individuelle Erlösungsgeschichte, er zeigt Klassenunterschiede, ihre Gewohnheiten im Sprechen und Leben. Er studiert wie Dante die reale Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, ohne theologische Überhöhung. Wie Dante zeigt er auch antike exempla , nicht allzu oft; sie zeigen nicht mehr die Konkordanz von antiker und christlicher Ethik; sie vermehren die Buntheit der Effekte und zeigen bleibende Schwächen der menschlichen Natur.
Boccaccio will mit seinem Decameron die bedrückte Lage der Frau erleichtern. Er nimmt sie nicht als jenseitige Herrin, die wie ein Admiral die irdischen Schiffe inspiziert, sondern als irdische, sinnlich-vernünftige Person, die in der gesellschaftlichen Krise, die er beschreibt, wissen sollte, was ihr wirklich nutzt und was ihr schadet. Er geht deswegen quasi-soziologisch, aber nicht wertfrei auf ihre Verhältnisse ein, bei Fürsten, Städtern und Bauern. Er sieht sie unter dem Druck der Familien; er beschreibt ihre Ausnutzung durch den herrschsüchtigen Klerus, der sie sexuell ausbeutet. Boccaccio stellt die Frau nicht mehr in ein theologisches Schema; seine Weltbetrachtung ist laikal. Eva spielt keine Rolle mehr. Er verspricht keinen jenseitigen Trost, er analysiert das Bedürfnis danach als Priesterbetrug und als Reflex realer Not.
Das Decameron bringt, wie beschrieben, hundert Novellen in Entsprechung zu Dantes hundert canti, zeigt aber keine Dreigliederung in aufsteigender Linie, sondern die bunte Vielfalt von Lebenssituationen. Kein Aufstieg eines einzelnen Subjekts der Handlung, sondern hundert Protagonisten. Deren Geschick belehrt, führt aber nicht zu einem gemeinsamen Gesamtergebnis oder Ziel, außer dem, daß jede Frau ihre Situation durchdenken und finden muß, was ihr wirklich nützt oder schadet. Zwischen den Geschichten bricht die Linie immer ab. Vermutlich hatte Boccaccio schon lange solche Erzählungen gesammelt und hat sie 1349 bis 1351 unter dem Eindruck der Pest in den jetzigen Rahmen gesetzt: Die Pest machte die längst wirkende Auflösung der Familien und Städte unleugbar. Die Zerstörung war vorher da. Das bewies die Commedia. Die Frage war: Wie sollen wir nach der Pest mit dieser Kenntnis gemeinsam weiterleben? Boccaccio setzt nicht mehr auf einen Herrscher als Retter. Er verkündet keinen veltro , keinen DVX. Er erwartet keinen Kaiser mehr; er glaubt nicht, man könne das Papsttum reformieren. Dadurch verkrümeln sich ihm die Lebenslagen, daher braucht er hundert unverbundene Szenen; er sieht keine Führung von oben. Er gibt seiner Novellensammlung eine flexible, eine offen bleibende Gliederung.
Die Buntheit des Stoffs sticht ab gegenüber Dante. Einige der zehn Tage stellt Boccaccio unter ein übergeordnetes Thema: Tag 2 und 3 Fortuna, 4 und 5 Amor, 6, 7 und 8 Einfallsreichtum, ingegno . Man braucht diese Aufzählung nur zu nennen, um zu sehen, daß Boccaccio nicht nur unterhalten wollte; seine Poesie zeigt wie die Dantes die Grundsituationen menschlichen Lebens, die großen Mächte, mit denen Menschen es zu tun haben. Aber Boccaccio läßt zwei themenfreie Tage, die endgültig klarstellen: Er kennt keinen einfachen Ausgangspunkt aller Handlungen. Handlungen führen bei ihm nicht zu einem übergeordneten, einheitlichen, jenseitigen Endziel. Als wäre die genannte Zusammenstellung – Amor, Fortuna, ingegno – schon zuviel an Einheit und Ordnung, hat Dioneo, der als Erzähler eine Sonderrolle spielt, noch das Privileg, innerhalb aller Tage am Schluß eine Novelle mit freiem Thema zu wählen. Das ist geplante, eingebaute Störung einfacher Linien. Lebenschaos drängt zwischen die einzelnen Tage und in sie; es kommt zum Aufstand der ungebändigten Vielheit, Sieg des Nicht-Identischen im Zeichen einer Frau. Wie Beatrice am Anfang und Ende der
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