Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
christlichen Religion Widersprüche enthielten. In seinem Werk: Ja und Nein, Sic et non , listete er solche Widersprüche sorgfältig auf und formulierte Regeln, sie zu überwinden. So trug er bei zur Entstehung der scholastischen Theologie, also zu Versuchen der kohärenten Gesamtdarstellung des christlichen Denkens.
Den nächsten wichtigen Schritt in diese Richtung unternahm Petrus Lombardus, gestorben 1160 als Bischof von Paris. Sein Hauptwerk, das sog. Sentenzenbuch , stellte Zitate der lateinischen Kirchenväter harmonisierend zusammen. Ihre einheitliche Wahrheit sollte daraus hervorgehen. Die von Abaelard begonnene Arbeit schien – ohne dessen Aufsässigkeiten – erledigt. Die Zusammenstellung des Petrus Lombardus avancierte zum wichtigsten theologischen Lehrbuch bis ins hohe 16. Jahrhundert.
Der Lombarde, Bischof von Paris und Bauherr von Notre-Dame, hatte die Traditionsmasse des westlichen Christentums nach dem Grundriß des Glaubensbekenntnisses von Nicea so zusammengefaßt, daß sein Buch sofort ein Erfolg wurde. Es entsprach den späteren universitätspolitischen Forderungen der Päpste Innozenz III., Gregor IX. und Innozenz IV.: Die Philosophie sollte zugelassen, aber klein gehalten werden; die Magd sollte nicht über ihrer Herrin, der Theologie, stehen. [910] Die Päpste zwischen 1200 und 1330 trieben aktive Universitätspolitik. Sie haben die Universität gefördert; sie haben sie bis in die Kleinigkeiten befehligt und kontrolliert. Für Dante wurde entscheidend: Sie haben in gleicher Häufigkeit und gleicher Härte, auch mit ähnlichen Metaphern, die Herrschaft der Päpste über weltliche Herrscher wie die der Theologie über die Wissenschaften gefordert. Genau dieser Zusammenhang war das historisch Charakteristische und bestimmte die Welt Dantes: Die Päpste haben die Selbständigkeit weltlicher Herrschaft ebenso untersagt wie die Selbständigkeit weltlicher Wissenschaft. Dies konnten sie nur durchhalten, wenn sie der Philosophie einen begrenzten Raum zugestanden. Diese Grenze war immer umstritten.
Ich bin über die Grenze des 12. Jahrhunderts hinausgegangen, kehre aber noch einmal zu ihm zurück: Wer in der Zeit vor Petrus Lombardus erfahren wollte, was Christen glauben, bekam die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse und deren Erklärungen zu lesen, aber wenn er es genauer und vollständiger wissen wollte, geriet er ins Unübersichtliche. Diesem Zustand setzte der Lombarde ein Ende. Er erfüllte die Vernunftforderung nach Widerspruchslosigkeit, nach Einheit und Klarheit an den divergierenden Materialien der christlichen Überlieferung. Sein Ziel war die Konkordanz der widersprechenden Stellen.
Fast zur gleichen Zeit arbeitete in Bologna Gratian an der Vereinheitlichung der vorhandenen Rechtsvorschriften. Das war ein Vorgang, den man nicht abschieben darf ins Spezialgebiet des Kirchenrechts. Gratian hat mehr getan, als nur die Grundlage des gesamten Kirchenrechts zu legen. Sein Buch, das Decretum , regelte zum ersten Mal eine Vielzahl auch profaner Lebensverhältnisse. Es definierte zum Beispiel, was ein Vertrag oder was eine Ehe ist. Es rationalisierte, was bisher unklar oder nur lokal geregelt war, für die ganze westliche Christenheit. Es brachte den gesellschaftlichen Status quo in eine juristische Form, nicht durch rein abstrakte juristische Systematik, sondern indem es die älteren Rechtsvorschriften zusammenstellte und harmonisierend interpretierte. Sein Ziel war die Herstellung gelehrter Konkordanz der vielfach widersprüchlichen bisherigen Rechtsgrundlagen. Auch hier wirkte das neue Bedürfnis nach umfassender Regelung, übrigens auch ethischer Normen, die einheitlich, vernünftig, d.h. vor allem widerspruchsfrei sein sollten.
Wer fortan die christliche Wahrheit definieren und den Alltag in ihrem Sinn beherrschen wollte, brauchte den Lombarden und das Decretum. Sie haben die Grundlage gelegt für viele Institutionen und Gewohnheiten, die es im früheren Mittelalter nicht gab. Die Papstkirche des 13. Jahrhunderts, die sich als die Vertretung der Weltherrschaft Gottes verstand, hatte jetzt ausgearbeitete Grundgesetze.
Das System des Kirchenrechts war seit dem 12. Jahrhundert überwiegend papalistisch. Deutsche Kaiser, die ihre Rechte gegenüber den Weltmachtplänen der Päpste behaupten mußten, hatten zunächst nur die Traditionen karolingisch-ottonischer Rechtsverhältnisse auf ihrer Seite. Aber auch sie fanden Hilfe in Bologna, denn dort wurde auch das alte Römische
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