Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
vollzieht, sieht Gott. Ita deum videbis.
Ein weiteres philosophisches Thema des späten Augustin wirkte fort, auch bei Dante: seine Analyse des Geistes, mens . Er habe drei Funktionen, Erinnern, Einsehen, Lieben. Dabei zielte Augustin darauf ab, daß diese Tätigkeiten sich durchdringen. Sie sind eins:
Ich liebe es, zu erkennen. Nur dann erkenne ich, wenn ich einsehen will. Ich weiß, daß ich mich erinnere. Nur dann erinnere ich mich.
Die Universitätsphilosophie sowohl des Mittelalters wie der Neuzeit sprach von drei Seelenvermögen. Die Konzeption Augustins ging in die entgegengesetzte Richtung: Die drei Funktionen sind eine einzige Tätigkeit, ein einziges Leben, ein einziges Wesen. [904]
Diese drei Themen – die Wichtigkeit des Ich, die Allgegenwart des ›Guten selbst‹ und die Analyse des menschlichen Geistes – blieben wirkende Fermente im Denken Dantes. Sie ermöglichten Dante eine Theorie intellektuellen Fühlens und Liebens.
Die anderen lateinischen Kirchenväter – Ambrosius, Hieronymus und der Papst Gregor I. – haben an diesem Bild eines inkohärent gemachten Neuplatonismus wenig geändert: Ambrosius trieb Kirchenpolitik und rezipierte viel von Origenes; Hieronymus legte sprachkundiger als andere die Bibel aus und stritt mit wem er nur konnte; Gregor der Große dachte an die Autorität des römischen Bischofs, beschrieb kundig das jenseitige Schicksal der menschlichen Seele, integrierte monastische Lebenskonzepte und die Engellehre des östlichen Mönchs Dionysius Areopagita, der sich als der Übermittler der Geheimlehren des Apostels Paulus ausgab. Dieser Dionysius war abhängig von dem Neuplatoniker Proklos, fingierte aber, der Vertraute des Apostels zu sein. Auch er stärkte die neoplatonisierende Auslegung des Christlichen. Auf ihn konnte sich Johannes Eriugena stützen, der in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts am Hof Karls des Kahlen eine erste Gesamtdeutung der Wirklichkeit im Sinn christlicher Philosophie vorlegte. Er näherte sich zusehends der christlichen Spekulation des Ostens. Dies war möglich als späte Folge der karolingischen Bildungsreform.
2.
Boethius
Auch die flüchtigste Skizze der christlichen Ideenentwicklung der ersten neun Jahrhunderte fordert einen Blick auf Boethius. [905] Er stammte aus höchstem römischen Adel; er hatte – anders als Augustin – eine hervorragende philosophische Ausbildung genossen; er hat die logischen Schriften des Aristoteles übersetzt und kommentiert. Staatliche Gewalteinwirkung hinderte ihn, das Gesamtwerk des Aristoteles zu übertragen; Theoderich ließ ihn im Kerker in Pavia erdrosseln. Daher fehlten die realphilosophischen Schriften des Aristoteles dem Westen bis weit ins 12. Jahrhundert, um nur Beispiele zu nennen: die Metaphysik und die Seelenlehre, die Ethik, die Physik und die Biologie. Boethius hatte in den letzten Lebensmonaten im Kerker ein Buch geschrieben, in dem er über sein Schicksal, über Gott und den Weltlauf nachgedacht hat: Trost der Philosophie. In dieser Lebenslage schrieb er nicht als Aristoteliker, Logiker, Mathematiker oder Naturforscher, sondern er wollte sein Schicksal verstehen, ähnlich wie der vom doppelten Unglück, dem Tod Beatrices und der Verbannung, gezeichnete Dante. Philosophisch kohärent, vermied er jeden Anklang an christliche Trostgründe. Er unterhielt sich mit der Dame Philosophie und erhielt von ihr Belehrungen über den Kosmos und die göttliche Güte, über den Menschen und sein geistiges Glück. Auch dabei traten neuplatonische und stoische Gedanken zusammen. Wichtig war die intellektuelle Atmosphäre dieses Textes aus der Todeszelle: Philosophie zeigte sich stark als Lebensmacht im Angesicht des Todes. Mit seinem Wechsel von Prosa und Poesie war das Buch bei Dante auch ästhetisch wirkungsvoll, besonders für die Vita nova und das Convivio.
Boethius vereinte in der Consolatio Philosophie und Poesie. Insofern bot er Dante ein einzigartiges Muster. Von Boethius hatte er das Bild der Philosophie als einer vornehmen Frau. Durch Boethius existierte Fortuna als wirkliche Macht im christlichen Denken. Er hatte die Willensfreiheit gegen allen Determinismus verteidigt. Ich greife aus diesem wichtigen Buch einige Themen heraus, die Dante neu aufleben ließ: [906]
Das zweite Buch endet mit folgenden Zeilen:
O felix hominum genus,
Si vestros animos amor,
Quo coelum regitur, regat.
Liebe beherrscht die Bewegung der Sterne. Herrschte diese Liebe bei uns, wäre die Menschheit
Weitere Kostenlose Bücher