Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Logikunterricht. Dieser beruhte zwar auf beschränkter Textbasis, der sog. Logica vetus. Aber er brachte im kirchlichen wie im politischen Leben zur Geltung, es gebe offenbarungsunabhängige, allgemeine, genau zu bezeichnende und von Führungspersonen zu erlernende Voraussetzungen menschlichen Wissens und Handelns. Kloster- und Kathedralschulen verfuhren nach diesem Programm; sie verbreiteten vom 9. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts eine spezifische Rationalität. Diese erreichte gesamtgeschichtliche Bedeutung; sie berührte den Alltag und die Politik, wie der Historiker Johannes Fried zeigen konnte. [909] Freilich gab es daneben immer auch monastisch-eifernden Bildungshaß und die Warnung vorm Hochmut des Wissens. Im 11. Jahrhundert schrieb Petrus Damiani das Lob der heiligen Einfachheit , sancta simplicitas .
Bis etwa 1100 folgte die vorherrschende Gesamtdeutung des Lebens den lateinischen Kirchenschriftstellern. Das Verständnis des Christentums und der Kirche beruhte politisch-gesellschaftlich auf der Macht Karls des Großen und seiner Nachfolger, besonders Ottos des Großen, der die Bischöfe zu Reichsfürsten gemacht hatte. Intellektuell orientierte es sich eher an Ambrosius und Augustinus als an Boethius. Durchweg war es schon damit überfordert. Für Medizin und Rechtswissenschaft, für eine mehr als symbolistische Naturbetrachtung war darin kaum Platz. Allerdings zeigten gegen 1100 einzelne Denker wie Berengar von Tours († 1088) und Anselm von Canterbury († 1109), was aus der boethianischen Logik und Anregungen des frühen Augustin für eine neue Auffassung des Lebens, des Menschen und der christlichen Lehre zu entwickeln war. Berengar und Anselm waren aus der intellektuellen Entwicklung der westlichen Welt nicht mehr wegzudenken; durch sie wurde das 12. Jahrhundert zur ›Achsenzeit‹.
4.
Die Achsenzeit: Das 12. Jahrhundert
Das 12. Jahrhundert brachte einen allgemeinen Lebensaufbruch. Die Bevölkerung nahm zu; Städtegründungen und Rodungen veränderten die Landschaft. Wer sein Kind in die Schule schicken wollte, mußte es nicht aufs Land in ein Kloster verbringen; die Städte gründeten Hospitäler und Schulen. Der Fernhandel nahm zu; er lieferte jetzt nicht mehr nur seltene Luxusgüter wie Salz, Pfeffer und Gewürze, sondern Waren des täglichen Bedarfs. Die Kirche organisierte die konsequente Durchdringung des flachen Landes; sie setzte die Pfarreistruktur durch. In den Städten wuchs die Bedeutung der Predigt.
Dies war der Kontext für neue Denkentwürfe und neue Einstellungen, für bisher unbekannte Texte und neue Institutionen. Boethius, auch Seneca und Cicero wurden jetzt mehr gelesen als zuvor. Berengar-Debatte und Investiturstreit hatten die Geister aufgewühlt. Es entstanden Dauerdiskussionen auf den Gebieten der Jurisprudenz und Medizin, der Philosophie, Theologie und des Naturwissens. Die Neugier nahm zu. Ein neues Selbstbewußtsein der Lesenden und Lehrenden sprach sich aus; das städtische Bürgertum organisierte sich und stellte unerhörte Fragen an Stadtherren und Lehrautoritäten. Eine stürmische Entwicklung setzte ein; die Neuerer wurden mutiger und einflußreicher, die Konservativen mißtrauischer und defensiver, konnten aber nur durch Neuerungen ihre Macht erhalten. Die Meinungsvielfalt nahm zu. Überall gab es nun Ketzer oder was dafür gehalten wurde. Die westliche Gesellschaft zeitigte neue Spannungen und neues Entwicklungstempo. Städtische Gruppierungen, Fernkaufleute und Händler, bald auch Handwerker, äußerten neues Selbstvertrauen in Religions- und Rechtsfragen. Die Gewohnheit des Gottesurteils wurde durch geordnete Rechtspflege ersetzt. Der Eintritt in ein Kloster wurde zunehmend als Ergebnis individueller Bekehrung verstanden und der familiären Anweisung wenigstens formell entzogen.
In philosophischer Hinsicht brachte das Jahrhundert grundlegende Umwälzungen. Sie hatten gewiß auch ihre Vorgänger, aber so richtig begannen sie mit Peter Abaelard († 1136). Er wies auf die ungelösten Probleme der logischen Schriften des Boethius hin und machte Vorschläge, wie sie zu lösen seien. Dies betraf vor allem die Frage nach dem Realitätsgehalt allgemeiner Bestimmungen, die sog. Universaliendiskussion. Einschneidender waren seine ethischen Reflexionen. Sie verlagerten das Interesse von der objektiven Wertordnung auf die subjektive Seite des Handelnden, also auf seine Absicht. Für die Folgezeit am wirksamsten wurde seine Entdeckung, daß die Texte der
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