Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
eingedrungen, daß sein Kommentar für Jahrhunderte unentbehrlich blieb. Er kritisierte Avicenna; dieser habe Philosophie mit frommer Rhetorik vermischt und dadurch den Begriff der Philosophie verdorben. Nicht, als habe Averroes den Islam verworfen; er hielt ihn für die Erziehung und politische Formierung der Massen für unentbehrlich, aber ihm zufolge sprechen die Religionen eine andere Sprache als die Wissenschaft. Er dachte die Notwendigkeit der drei großen Religionen pragmatisch, gesellschaftlich, politisch. Die Wissenschaft gehe von notwendigen Vernunftregeln aus: für die Erziehung und Leitung des Volkes genüge die Rhetorik. Diesen Unterschied habe Avicenna verkannt. Ohne die Rolle der Religionen mißachten zu wollen, beschnitt Averroes ihre theoretischen Ansprüche. Das hatte einschneidende Folgen – für den Begriff Gottes und die Einschätzung von Offenbarung, für den Lehrsatz von der Erschaffung, für das Konzept der Seele und der Seligkeit. Aber auch wer die Trennung von philosophischer Wissenschaft und predigerhafter Rhetorik ablehnte, kam um Averroes nicht herum; er brauchte dessen Kommentar. Dies hat im Westen den Begriff von Philosophie, von Forschung und das Selbstverständnis von Gelehrten verändert. Seit dem 13. Jahrhundert gab es die Universität mit einer Fakultät, die noch immer die der artes hieß, die aber das Lehrprogramm der alten Bücher über die sieben freien Künste austauschte gegen die Arbeit am Text des Aristoteles anhand des Averroes.
Es entwickelte sich ein professionelles Selbstverständnis der sog. ›Artisten‹. Die Theologen wollten nicht, daß die artes-Lehrer auf das Terrain der Theologie übergriffen. Das trug dazu bei, daß sie die Selbständigkeit der Philosophie gegen Glauben und Theologie scharf herausstellen konnten. Sie kamen zu anderen Ergebnissen als die Theologen, zum Beispiel bei der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, aber sie konnten ihre Argumente vortragen, wenn sie nur versicherten, die Philosophie führe zwar zu anderen Ergebnissen, aber sie persönlich folgten gehorsam dem Glauben der Kirche; sie beschränkten sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nur aufs Gebiet der Philosophie.
Das war ein kluger Schachzug. Er hielt Inquisitoren fern. Aber damit vermieden sie nicht alle Konflikte. Denn Theologen wandten ein, Christen könnten nicht auf der Selbständigkeit einer Methode beharren, die den Glauben zwar bestehen lasse, aber de facto ignoriere. Die Bibel mache nun einmal Aussagen über Weltanfang, Seele und wahres Glück. Ein Wissensfeld, das sich in einer gläubigen Lebenswelt als extraterritorial erklärte, gefährdete die Einheitlichkeit einer Zivilisation und den allumfassenden Welterklärungsanspruch der Theologie. Eine gewisse Selbständigkeit der Philosophie war seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr zu versagen, etwa für die Naturphilosophie, die Medizin und die Logik. Aber Aristoteles hatte Grundlagen des Islams wie des Christentums angerührt, indem er die Ewigkeit der Welt lehrte oder vom menschlichen Intellekt behauptete, er schaffe seine Glückseligkeit selbst und sie könne ihm nicht von außen gegeben werden. Daher brachen im 13. Jahrhundert immer wieder Streitigkeiten aus wegen der Selbständigkeit profanen Wissens. Wer wie Dante um 1290 eine argumentierende Lebensorientierung suchte, stand vor einer Mehrzahl von Lösungsvorschlägen dieser Konflikte.
6.
Aristoteles bei Christen – Albertus Magnus
Ich unterscheide grob vier wichtige philosophische Richtungen, zwischen denen Dante wählen konnte. Da ist erstens Aristoteles, den man mit der Hilfe des Averroes las. Die Frage war, wie weit ein Autor ihm inhaltlich entgegenkam; dafür ist Albert der Große ein wichtiges Beispiel.
Zweitens war da die aristotelismuskritische Position vieler Franziskaner, besonders Bonaventuras.
Drittens versuchte Thomas von Aquino Aristoteles von Averroes abzusetzen und den so gereinigten Aristotelismus in sein Konzept von Theologie zu integrieren.
Viertens gab es Autoren, die sich methodisch auf die Philosophie beschränken wollten. Das gilt teilweise für Albert, weitgehend für Siger von Brabant.
Um Averroes war es in Paris etwa ab 1265 zur Krise gekommen. Es folgten die Verurteilungen von 1270 und 1277. Dennoch war Averroes um 1290 noch unübersehbar wichtig. ›Averroes‹, das war ein riesiger Textkomplex detaillierter Kommentararbeit; ›Averroismus‹ war ein Kampfwort des ausgehenden 13. Jahrhunderts, von Thomas Aquinas gegen Siger
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