Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Recht gelehrt, das dem Kaiser eine unabhängige große Macht zusprach, wie sie in der römischen Antike als selbstverständlich galt.
Das Sentenzenwerk und Gratians Decretum waren Einheitssetzungen der menschlichen Vernunft, die dem Bedürfnis des Jahrhunderts entgegenkamen, aber sie hatten ihre Grenzen. Sie systematisierten, was im lateinischen Westen an kirchlichen Regeln und Stoffen vorhanden war. Der Lombarde vereinfachte das Denken Augustins und Gregors vorsichtig und kirchenkonform; er interessierte sich so gut wie nicht für andere Bedürfnisse, die sich jetzt ebenfalls anmeldeten – Krankheiten oder Stadtgründungen, Architektur oder ein Wissen über Tiere; es fehlte eine Biologie, die über deren symbolische Bedeutung hinausgegangen wäre. Dies alles aber brauchte die geschichtliche Dynamik dieses Jahrhunderts. Ihm fehlte noch mehr, nämlich die Chemie und die Optik, Literatur zu Ackerbau und Werkzeugherstellung. Auf diesen Gebieten hatte die islamische Welt einen großen Vorsprung. Er konnte in Spanien und Süditalien nicht verborgen bleiben, Kreuzzügler brachten Proben mit. Westliche Intellektuelle, zuerst in Salerno und Chartres, in Toledo, bald auch in Bologna und Montpellier arbeiteten daran, die Grenzen der rhetorischen, oft abstrakt-verbalen augustinisch-kirchlichen Schulkultur zu sprengen.
Sie hauchten der Philosophie und dem Naturwissen, die bei Petrus Lombardus so gut wie nicht vorkamen, neues Leben ein. Die Natur war neu zu sehen; sie blieb nicht länger nur das Bild ethisch-religiöser Vorstellungen. Mit leichter Vergröberung kann man sagen: Der Westen hat zwischen 1130 und 1230 ein Jahrhundert lang daran gearbeitet, sich die Errungenschaften der höheren griechisch-arabischen und auch der jüdischen Zivilisation zuerst einmal stofflich anzueignen. In der Folgezeit hat er sie weiterentwickelt, bis er ökonomisch, militärisch und technisch die sich geographisch immer mehr erweiternde Welt beherrschte. Dazu übernahm er zunächst die arabischen Zahlzeichen, mit denen Händler leichter rechnen konnten; dann arbeitete er die gesamte Textmasse der griechisch-arabischen Wissenschaften durch. Jetzt verband er Philosophie mit Erfahrungswissen, mit Tierkunde, Optik, Chemie und Medizin; er erarbeitete sich Aristoteles und seine arabischen Kommentoren. Das waren vor allem Ibn Sina (Avicenna, † 1037) und Ibn Rushd (Averroes, † 1198).
5.
›Aristotelisch‹ versus ›peripatetisch‹
Reinen Aristotelismus gab es nie, weder in der Antike noch im Mittelalter. ›Reinen Aristotelismus‹ könnte man das nennen, was Gräzisten und Philosophen des 19. Jahrhunderts als die Lehre des Aristoteles rekonstruiert haben. Im Vergleich dazu kam die Philosophie des Aristoteles in der Geschichte immer nur vermischt vor, versetzt mit platonischen, neuplatonischen und stoischen Lehren, abgerichtet zu theologischen oder theologiekritischen Zwecken. Neuere Forscher haben sich daher angewöhnt, statt von ›Aristotelismus‹ von ›Peripatismus‹ zu sprechen, um an die ständige Umformung des aristotelischen Erbes zu erinnern. Schon allein die beiden wichtigsten Peripatetiker der Araber, die für den lateinischen Westen außerordentlich große Bedeutung hatten, nämlich Avicenna und Averroes, boten zwei recht verschiedene Varianten der Aristoteles-Lektüre an.
Was beide gemeinsam hatten und wodurch sie sich von den Aristotelikern unter den christlichen Theologen unterschieden: Sie waren beide bedeutende Mediziner. Dies war einer der Gründe, warum sie bald im Westen großes Interesse fanden: Sie lösten die bisherige Klostermedizin, auch die Weisheit der heiligen Hildegard, schnell ab. Avicenna wurde schon im 12. Jahrhundert in Toledo übersetzt (Dominicus Gundissalinus; Johannes Hispanus). Sein Handbuch der Medizin ( Canon genannt) wurde noch im 16. Jahrhundert gedruckt und geschätzt. Die arabischen Aristoteliker befriedigten das Bedürfnis des Westens nach Naturkunde; sie brachten Physik und Seelenlehre, Biologie und Kosmologie mit. Avicenna arbeitete ein umfassendes System aus und versetzte die Naturbetrachtung des Aristoteles in einen eher neuplatonischen Rahmen, der die Philosophie des einen notwendigen Wesens verband mit Islam und Medizin.
Averroes, der erst gegen 1230 dem Westen bekannt wurde, schuf ebenso eine umfassende Weltansicht, bewährte sich aber vor allem als Kommentator der aristotelischen Schriften. Griechisch konnte er nicht, aber er war so tief in die Gedanken des Aristoteles
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