Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
theologischen Roman, der sich bei Dante zudem kompliziert, weil er sich verwickelt mit einer ethisch-politischen Utopie (S. 60). Die soeben sich isolierende reine Poesie wird dadurch wieder eingefügt in eine Mittel-Zweck-Beziehung und ist deshalb bei Dante nie l’art pour l’art.
Damit erteilt Croce dem Leser die Erlaubnis, sich die lyrischen Passagen abzutrennen, sich an die großen Figuren zu halten, also zu individualisieren, das Inferno zu privilegieren und für sich zu lesen. Daran ist zumindest soviel richtig, daß Odysseus zwar der Kategorie der falschen Ratgeber zugeordnet ist, aber poetisch nicht als solcher vor unseren Augen steht, so wenig wie Farinata als Häretiker und Brunetto Latini als Sodomit. Croce verfeinerte philosophisch die Dualität, die De Sanctis beschrieben hatte als den Unterschied zwischen dem, was Dante wollte und was er realisierte, zwischen Dantes Stoff, der unpoetisch war, und dem, was Dante daraus gemacht habe. Croce sah die Struktur, das theologische Gerüst, nicht als Stoff, nicht als anti-poetisch, er wollte das Gedicht nicht zerschnitten sehen. Ihm zufolge war der theologische Roman im Gedicht das dialektisch Andere der Lyrik (im weiten Wortsinn). Die Gefahr isolierender Lesetechnik konnte er so nicht vermeiden. Intratextuelle Bezüge sowie den Zusammenhang einzelner Figuren mit der geschichtlichen Welt ließ er im Schatten.
Die Dante-Forschung ging nur weiter, indem sie diese Engführung verließ. Aber ich unterscheide zwischen Dante-Forschung und Dante-Lektüre des freien Lesers. Für die ästhetische wie für die pädagogische Seite läßt sich aus Croces Dante-Bild folgern: Der normale Leser soll sich heraussuchen, was ihm etwas sagt, da solo a solo (S. 26). Wer vorhat, über Dante erklärend zu sprechen, muß allerdings einen zweiten Durchgang unternehmen und soviel an Forschungsstoff in sein Dante-Bild integrieren, wie es ihm möglich ist. Wer wenig tut, z.B. nur Croce und Thomas von Aquino liest, aber nicht Aristoteles, Albert, Averroes und den Liber de causis , beansprucht in der Forschung wohl kaum Autorität, jedenfalls nicht mehr seit Bruno Nardi.
Dante fachlich zu erforschen, das ist nicht da solo a solo möglich; Gelehrte müssen soviel an Texten daneben legen wie möglich. Dann bewegen sie sich von Dante weg. Sie realisieren, könnte man mit Croces abgelebter Formel sagen, den dialektischen Charakter der Einheit von Struktur und Poesie. Aber der freie Leser – das ist übrigens der Dante-Forscher selbst auch, und zwar zuerst – darf, ja muß zeitweise den Bildungsstoff wegschieben. Es besteht heute durchaus eine Tendenz, das freie Subjekt der ästhetischen Erfahrung abzuschaffen oder es in Dante-Stoff zu ertränken. Dagegen steht Croce. Er ermutigt, selbständig, ›ungebildet‹, an Dante heranzugehen, vormethodisch wie nach-methodisch. Der freie Leser darf sich nicht durch die großen Dante-Forscher zum kleinen Dante-Forscher entstellen lassen. Er hat das Recht, etwas anderes zu suchen als der Spezialist. Dante-Forscher freilich darf man danach bewerten, a) von wie weit her sie Wissensstoff hergeholt haben, von dem sie nachweisen können, daß er den Dante-Text und unser vorwissenschaftliches Dante-Lesen erhellt, b) ob sie von der einzelnen ›lyrischen‹ Passage aus argumentierend zur Kenntnis der Commedia als eines Organismus führen, und c) in der Dante-Forschung etwas charakteristisch Neues, den Status quo der Deutungen nachweislich Förderliches sagen. Die beiden Wege müssen sorgfältig getrennt nebeneinander erhalten bleiben. Freien Zugang, auch deformierenden, fördert Croces Essay; die Forschung ist nach eigenen, strengen Kriterien zu bewerten. Die didaktische Arbeit mit Dante sollte frei bleiben von stofflichen historischen oder theologischen Beschwerungen. Nur indem sie Freude am Lesen vermittelt, erhält sie Dante lebendig.
7.
Ossip Mandelstam und Jorge Luis Borges über Dante
7.1 Dante: Bildertaumel und Aufklärung
Ossip Mandelstam ist 1891 geboren und 1938 in einem Zwangsarbeitslager bei Wladiwostok gestorben. Sein Essay Gespräch über Dante ist 1933 entstanden, durfte aber erst 1967 posthum gedruckt werden. Seine Dante-Lektüre schlägt in die Landschaft der Dante-Deutung ein wie ein Meteorit. Sie ist bestimmt von den Leiden der stalinistischen Verfolgung und dem Hunger nach Erfahrung. Sie spricht aus der Not und der aufgezwungenen Isolation; kein Dante-Bild ist weiter entfernt von akademischer Routine. Mandelstam war kein
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