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Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)

Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)

Titel: Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dante Alighieri , Kurt Flasch
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Zuordnungsdiskussionen hinter sich zu lassen, warum einzelne Sünder in den hierarchischen Stufen oder Schubladen des Universums vorkommen. Der Leser breche mit der moralistischen oder nur theologiegeschichtlichen Pedanterie, Schuld und Strafe auszutarieren. Er lerne, Dante zu denken als den Meister der »umkehrbaren und fortwährend sich wandelnden poetischen Materie«, als den »chemischen Dirigenten« einer »einzig in Fluten und Wellen, einzig im Aufschwung und im Kreuzen existierenden poetischen Komposition« (S. 154).
    Mandelstam in seiner politisch bedrohten Lage konnte gar nicht entgehen, daß die Commedia eine ethisch-politische Intervention ist. Aber er sah ihren Charakter als Kunst verletzt, wenn der Leser sie nicht als flutendes Wasser mit seinem Auf und Ab und als Aufprall sich kreuzender Strömungen sieht. Freunde der Ordnung heben an ihr hervor, sie sei so schön nach Zahl und Maß geordnet, Freunde des Lebens und der poetischen Sprache sehen ihre vielschichtige und vielfarbene Bewegung, also das, was Mandelstam ihren »Tanz« nannte. »Die europäische Literaturkritik«, kritisiert Mandelstam, habe das Fließen Dantes, der von sich gesagt hat, er sei extrem verformbar und nicht starr identisch, festgemacht an ein »paar Kupferstichen von Höllenlandschaften« (S. 143). Aber das Lesen Dantes muß hinauskommen übers Einteilen und Zuteilen nach anschaulichen Stufen. Diese kommen in der Commedia vor und spielen ihre Rolle, aber sie werden überströmt und verwandelt. Der Leser soll an Dantes Sprache herantreten und deren kristalline Natur betrachten, sozusagen mit dem »Geologenhammer«, um ihre Vielfarbigkeit, ihre »Einsprengsel und Trübungen« zu sehen (S. 143). Die Vielschichtigkeit der Sprache Dantes ist seit Pasolini und Contini ein Standardthema der Dante-Erklärer geworden; Mandelstam hat es vorweggenommen. Ordnet das Interesse an der äußeren Architektur sich der material-nahen Sprachbetrachtung unter, dann liegt das ganze Poem wie eine einzige Strophe vor ihr (S. 130). Mandelstams »Experimentaltänze« können beginnen. Es sind Forschungen einer höheren Art von »Kristallographie« (S. 130).
    Sie gleichen eher einer Gesteinsuntersuchung in der Art Goethes als einer bei Spengler oder Rudolf Steiner erlernten ›Geisteswissenschaft‹. Sie reißen den Leser heraus aus den Schemata pädagogischer Vereinfachungen, die ihm am Anfang unentbehrlich waren und die Dante selbst mit seinen rigorosen Einteilungen in Jenseitsreiche und Gesänge vorgenommen hat. Auch das aristotelische Tugendsystem, das Dante in Inferno 11 zur Orientierung anbietet, muß er, nachdem er es erlernt hat, wieder vergessen. Zahlen und Figuren kommen dem hilfsbedürftigen Dante-Leser entgegen; er behält lieber die Ordnung im Auge, als sich vom reißenden Strom forttreiben zu lassen. Mandelstam gebraucht aufschreckende Bilder, um dem Ordnungssinn beim Dante-Lesen die Führung zu nehmen:
»Würden die Säle der Eremitage plötzlich verrückt, würden sich die Bilder aller Schulen und Meister von den Nägeln lösen und ineinander übergehen, sich mischen und die Luft der Säle mit futuristischem Gebrüll und tobender Erregung der Farben füllen, bekämen wir etwas, was der Danteschen ›Komödie‹ vergleichbar wäre« (S. 172).
    Mandelstam empfiehlt bacchantischen Tanz statt der Gewohnheit des Wiedererkennens und Einordnens, zu dem der Dante-Leser anfangs seine Zuflucht nimmt. Er fühlt sich sicher, wenn er Sünder nach ihrer Verfehlung diagnostiziert und straftheologisch korrekt unterbringt. Dabei hatte schon Schelling davor gewarnt, das Verhältnis von ethisch-politischer Fehlhaltung und Strafe juristisch statt poetisch aufzufassen. Die Lust an banalisierender Zurechtlegung sitzt so tief, daß es schroffer Zurufe bedarf, sich von ihr zu lösen. Ein solcher Zuruf ist der Bildertaumel in der Eremitage mit ihrem futuristischen Gebrüll. Diese »Einladung zweiten Grades, Dante zu lesen«, weiß, daß es Dante immer um Erkenntnis ging. Sie opfert das Wissenwollen nicht wildem, irrationalem Treiben. Sie übt »Experimentaltänze«, und der Zögling darf nicht beim Tanzen vergessen, daß er zum Experimentieren gekommen ist. Mandelstam gibt ihm gar den geschichtsphilosophischen Auftrag:
»Dante der Schulrhetorik zu entreißen, hieße der ganzen europäischen Aufklärung einen wichtigen Dienst erweisen« (S. 172).
    7.2 Ins Einzelne gehen
    Mandelstams Zurufe würden deklamatorisch und leer bleiben, führten sie nicht zu

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