Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
Geldwirtschaft war nicht die Rede. Dies änderte sich in der Storia della letteratura italiana des Francesco de Sanctis, deren erster Band 1870 erschienen ist. [933] De Sanctis (1817–1883) war aus dem Königreich Neapel in die Schweiz geflohen; er war von 1855 bis 1859 Professor in Zürich; er eilte, als die italienische Einheit sich abzeichnete, 1860 nach Italien, übernahm hohe politische Ämter, war mehrfach Unterrichtsminister und arbeitete mit Cavour zusammen. Er war ein Mann des Risorgimento. Sein Dante-Bild nahm Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel der Zeit um 1300. Diese Entwicklung scharf herausarbeitend, bestand er auf dem Gegensatz von Dante und Boccaccio. An deren Kontrast beschrieb er die gesellschaftliche Entwicklung; bei Schelling und Hegel war von ihr und war von Boccaccio nicht die Rede.
Mit Dante sei das Mittelalter gegangen ; auf die religiöse und kavalereske Welt sei die neue Generation der Bürgerlichen gefolgt, die beanspruchen, durch Tüchtigkeit an die Stelle des Adels zu treten. Dante war Laie, aber er übernahm die Funktion des Priesters und Reformers. Er stellte sich selbständig seiner Gesellschaft gegenüber und beurteilte sie nach strengen Regeln. Boccaccio mit seinem Decameron verlasse diese Welt und ihren großen Dichter; er gebe das alles auf: die Kultur der Ritter, die Mythologie und die Allegorie, alle dantesken Reminiszenzen (S. 302). Er teile die Interessen seiner Gesellschaft. Die neue Generation war De Sanctis zufolge schlapp und müde, fiacca e stanca , aber kultiviert und vergnügungssüchtig. Boccaccio passe sich dieser Welt an, die profan und frivol war. Er spiegelt sie, er tritt ihr nicht wie Dante gegenüber . Im Unterschied zu Dante überläßt er sich den wechselnden Eindrücken des Lebens; er sammelt sich nicht wie Dante in sich selbst. Dante und Petrarca waren im Unterschied zu Boccaccio Geister, in sich gesammelt und ekstatisch, spiriti raccolti ed estatici (S. 304). Boccaccio wirft sich auf die Außenwelt; nie kommt er auf sich selbst zurück, nie neigt er ein nachdenkliches Haupt. De Sanctis wußte es noch genauer: Gedankenfalten haben diese Stirn nie berührt. Le rughe del pensiero non hanno mai traversata questa fronte (S. 304). Mit dem Decameron verschwinde alles das, was Dante auszeichnete: die Intimität, die Sammlung, die Ekstase, die unruhige Tiefe des Gedankens, das Leben des Geistes in sich selbst, das sich nährt von Phantasmen und Mysterien. Nach Dante stieg das Leben an die Oberfläche, glättete sich und machte sich schön. Es verzierte sich mit Erzählungen. »Die Welt des Geistes geht, es kommt die Welt der Natur« (S. 304). Es herrscht der Instinkt; die Literatur veranstaltet ihren Karneval der Imagination. De Sanctis spielt an auf die Hundertzahl der Novellen und stellt fest: Der Geist der Commedia ist verschwunden, was zurückblieb, ist nur ihr Knochengerüst. Die Welt draußen ist reicher und vielfältiger geworden. Es ist zum ersten Mal, daß das Fleisch in die Geschichte (der Literatur?) eintritt (S. 320). Aber innen ist diese Bürgerwelt leer; sie ist ohne Mythologie, ohne Glauben und ohne Ekstase; sie ist indifferent in religiöser, politischer und moralischer Hinsicht (S. 305). Dante urteilte nach den Gesetzen einer höheren Gerechtigkeit, Boccaccio überläßt die Welt blinden Naturkräften. Wenn es bei ihm überhaupt Tragik gibt, dann aus dem Zusammenstoß instinktiver Liebe mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehre. Eine solche Tragödie bleibe äußerlich und oberflächlich. Dante kannte den Schmerz bis zur Zerfleischung, strazio , Boccaccio würzt damit seine Novellen, die er zum genüßlichen Zeitvertreib der bürgerlichen Gesellschaft erzählt. Bei Boccaccio trete der Zufall an die Stelle Gottes, dessen Name nur rein konventionell weitergebraucht wird. In Boccaccios Welt herrsche der Zufall als Gott: Un mondo, cui dio è il caso (S. 309).
Der Boccaccio des De Sanctis ist der reine Anti-Dante. Ernst ist in ihm nur die Apotheose des Einfallsreichtums, l’apoteosi dell’ingegno , und der Anspruch der Bourgeoisie auf Gleichberechtigung. Diese Bourgeoisie ist gebildet und selbstbewußt; was sie komisch findet, ist die Unbeholfenheit und der Aberglauben der unteren Schichten. Verständlich werde das Decameron nur als Reaktion auf Asketismus und fromme Legenden; es ist die Revolte des Fleisches gegen den Geist; es verdreht alles; es gibt heiligen Wendungen obszönen Sinn. Hier werden die Unschuldigsten am meisten
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