Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen (German Edition)
ihn ermitteln, aber zur Dichtung Dantes trägt nur bei, wer den Gebrauch studiert, den Dante von diesem geschichtlichen Inhalt macht. Er muß zeigen, wie eine geschichtliche Figur die Bewunderung und die Liebe Dantes zu ihm oder sein Erschrecken über ihn ausdrückt. Croce spricht diese Voraussetzung seiner Erlebnis- oder Gefühlsästhetik entschieden aus: Alles andere habe mit der Poesie Dantes nichts zu tun. Stoffliche Informationen, gerade auch solche der Ausdeutung von Allegorien, erreichten nicht das poetische Bild. Informationen dieser Art seien immer stoffartig und begrenzt, das poetische Bild habe immer unendlichen und spirituellen, geistigen Charakter (S. 21).
Eine philosophische Dichotomie dieser Art liegt dem Poesie-Begriff Croces zugrunde. Hier wären theoretische Diskussionen am Platz, zu denen ich nur so viel sage: Dantes Dichtung ist Gesang. Dante verstand sie als inspiriert von den Musen. Wer singt, läßt den Tatsachengehalt des Sagens zurücktreten, macht ihn aber nicht verschwinden. So nimmt der Dichter aus der Tatsachenwelt in sein Konzept nur auf, was zu ihm paßt. Zu diesem Konzept kann gehören, auch das Nichtpassende, das Niezuverdauende aufzunehmen, aber Auswahl und Präsentation leiten sein Konzept. Croce drückt das neoidealistisch aus: Aller Geschichtsstoff wird in der poetischen Einverwandlung geistig und unendlich, spirituale e infinito (S. 21).
Dante-Gelehrsamkeit, die den Stoff historisch-methodisch präpariert, kann an Dantes Dichtung vorbeigehen. Croces Intervention war der Zuruf: Sucht zuerst das Himmelreich der Poesie, alles Übrige wird euch dazugegeben! Croce erklärt sein Konzept von ›Lyrik‹ oder ›lyrischer Intuition‹: Damit bezeichne er nicht nur eine literarische Gattung neben Epos und Drama, sondern allgemein die Kunst, die sich als Kunst, nicht als bloße Wiedergabe von Außenwelt verstehe (S. 31–32). Auch nicht als direkten Ausdruck von Gefühl, sondern ebenso als verwandeltes Gefühl wie als verwandelte Außenwelt. Croce wollte klassizistische und romantische Kunsttheorien vermeiden. Das poetische Bilden dürfe nicht verwechselt werden mit dem sinnlichen Umkleiden eines spekulativen Gedankens oder einer politisch-praktischen Zwecksetzung. Croce stellte die Dante-Auslegung in den Zusammenhang der Philosophie der Kunst überhaupt.
Croces Botschaft vom Eigensinn und Mehrwert des Poetischen hat Folgen für die Einzelauslegung. Er macht z.B. darauf aufmerksam, das Poetische sei, daß Dante in den Verdammten nicht nur den Grund der Verdammnis sieht, daß er sich mit deren Verurteiltsein nicht begnügt. Dante wiederhole nicht das Strafurteil, sondern sehe das Menschliche im Verurteilten und das Menschlich-Schwache in den Seligen (S. 55). Er hält sich nicht an das abstrakte, das quasi-juridische System von Lastern und Tugenden. Und generell: Das Jenseits als solches war nicht das dominante poetische Motiv der Commedia (S. 58).
6.4 Das ergibt Croces vieldiskutierte Unterscheidung von Struktur und Poesie. Zunächst ist das Mißverständnis fernzuhalten, Croce habe nicht gesehen, daß sie in der Commedia zusammen vorkommen, und zwar ungetrennt. Croces Frage war: Sind Struktur und Lyrik poetisch verbunden? Er drückt das so aus: Schema und Poesie, theologischer Roman und Lyrik lassen sich nicht trennen. Eines beeinflußt das andere, aber sie bilden eine dialektische Einheit (S. 67). Sie sind als Gegensätze vereint. Der hegelsche Begriff der Dialektik bedeutet: Immanentes Ineinanderübergehen gegensätzlicher Bestimmungen. Das könnte heißen: Die Commedia ist der versifizierte Prozeß der ständigen internen Wechselwirkung der beiden einander unentbehrlichen Elemente oder Kräfte. Croces Kritiker haben den Begriff ›dialektische Einheit‹ wohl nicht immer so genau genommen, vielleicht sogar Croce selbst nicht. Die Poesie durchbricht in der Commedia das Schema. Sie stellt sich vor die Struktur. Mehr noch: Sie macht die Struktur vergessen: Wir hören Francesca und verlieren die Höllenkreisordnung aus dem Sinn. Sie will beten für Dante, weiß aber, daß das nichts nutzt. Dante, statt das Urteil über die Ehebrecherin zu bestätigen, bricht bewußtlos zusammen. Die poetische Kunst der Odysseus-Erzählung, ihr Lyrik-Charakter im definierten weiten Sinn von ›Lyrik‹ läßt den Leser die Gründe seiner Verurteilung vergessen. Die Gestalt, die poetisierte, löst sich poetisch heraus aus dem Rahmen; als poetisches Vorkommnis zieht sich die Person heraus aus dem
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