Commissaire-Llob 1 - Morituri
mustere ihn gemächlich von oben bis unten.
Wenn er denkt, daß er sich auf seine Immunität als
Parlamentspreßwurst mit Hütchen verlassen kann,
ist er ein Optimist.
Mein Gastgeber drängt mich in eine Ecke und
liest mir die Leviten: „Sachte, Llob, meine Gäste
haben einen langen Arm.“
„Sie kamen mir doch gleich so schimpansenhaft
vor.“
„Idiot! Ich gebe dir die Chance, gute Beziehun-
gen anzuknüpfen, und du benimmst dich wie …“
„Ich habe ein Magengeschwür“, unterbreche ich
ihn.
„Na und?“
„Mein Hausarzt hat mir davon abgeraten, so ed-
les Weißbrot zu essen.“
„Das schwarze ist dir also lieber?“
„Genau.“
„Gut, dann bleib dabei.“
Spricht’s, wendet sich einem zwielichtigen Bür-
germeister zu und läßt mich stehen.
Ich fühle mich gar nicht wohl in meiner Haut. Ich
versuche, mich einzugewöhnen, aber es ist nicht
leicht. Diese Feenwelt, von Musik umspült, in die
da und dort das schwärmerische Lachen angetrun-
kener Weibsbilder einbricht, die Wahnsinnskaros-
sen, die im Park wie heilige Kühe herumstehen, der
Prunk und die grenzenlose Überheblichkeit der
Bonzen, der Vollmond am Himmel, das verhei-
ßungsvolle Rascheln des Reichtums – alles an die-
sem Ort verursacht mir Brechreiz.
Das Algerien, das ich kenne, ist ganz anders.
In meinem Land quellen die Friedhöfe über vor
Tränen und Blut, die Rechtschaffenen huschen im
Schutz der Mauern durch die Gassen, um dem bö-
sen Blick zu entgehen. Hier dagegen, in diesem Taj
Mahal revanchistischer Eunuchen, ist alles in But-
ter. Nicht das geringste Problem, nicht das kleinste
Gefühl von Unsicherheit. Die Schurken meiner
Heimat haben sich einen abgeschlossenen und
keimfreien Mikrokosmos geschaffen. Wenn mir
Klettermasten je imposanter als Denkmäler er-
schienen, dann an diesen Orten des Wohlstands.
Ich sammle meine Minderwertigkeitskomplexe
ein, steige in meine Blechkiste, streife absichtlich
den Kotflügel einer dicken Limousine – leider ist
es mein Zastava, der etwas abbekommt – und hol-
pere mühsam in Richtung der Anhöhen der Stadt,
um wieder durchatmen zu können: in einer Luft,
die zwar auch stinkt, aber nicht vor Geld.
3
Ich sitze in meinem verbeulten Lehnstuhl und beo-
bachte, wie allmählich der Morgen heraufzieht. Die
Explosionen und Sirenen haben sich die ganze
Nacht über gegenseitig angebrüllt. In der Oberstadt
brannte ein Lagerhaus nieder. Hinter dem Hügel
ging eine Bombe hoch. Und dann war da noch die-
ser verdammte Durchzug, der die Poltergeister in
meinem Haus zum besten hält und mich bis zum
Morgen wachhielt.
Von meinem Fenster aus kann ich das nesselnde
Elend der Kasbah sehen, seine Abwasserschwärze,
und dahinter das Mittelmeer. Es gab eine Zeit, da
es mir, dem eifrigen Patrioten, von meinem Wach-
turm aus schien, als ginge aus diesen Elendsquar-
tieren, die von Krieg und Not arg gebeutelt waren,
der Adel hervor, als sei das pergamentene Gassen-
gewirr die Heimstatt der Tapferkeit. Das war die
Zeit, da Algier weiß wie die Tauben und die Arglo-
sigkeit war, da die Erde in den Augen unserer Kin-
der soeben wieder neue, jungfräuliche Horizonte
gewonnen hatte. Es war die Zeit der Parolen und
des Chauvinismus; die Zeit, da die Propaganda es
besser als jeder fabulierende Greis verstand, uns
das Blaue vom Himmel zu versprechen, während
sich der Abend über einen bestürzend nutzlosen
Tag herabsenkte.
Heute kriechen unter den Röcken der Nation, aus
dem Trümmerhaufen der Mißstände, Ausgeburten
des Schreckens hervor, und die Heimat, auf die ich
stolz war, ist abstoßender als die schlimmste Bar-
barei.
Von nun an, nur wenige Schwimmstöße vom
Punkt ohne Wiederkehr entfernt, gibt es in meinem
Land Kinder, die man einfach so abknallt, nur weil
sie in die Schule gehen, und Mädchen, denen man
den Kopf abschlägt, nur weil man den anderen
Angst einjagen muß.
Von nun an, nur wenige Gebete von Gott ent-
fernt, gibt es in meinem Land Tage, die nur anbre-
chen, um wieder zu verschwinden, und Nächte, die
nur schwarz sind, um sich unserem Gewissen an-
zugleichen …
Aber was kann man von einem System erwarten,
das sich schon am Morgen seiner Unabhängigkeit
auf die Witwen und Waisen seiner eigenen Märty-
rer gestürzt hat, um ihnen Gewalt anzutun?
Mina wirft sich unter der Bettdecke hin und her.
Ihre Madonnenstimme haucht mir verschlafen zu:
„Komm ins Bett.“
„Ist ja schon sechs“, erwidere ich.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher