Commissaire-Llob 1 - Morituri
einem bedauerlichen Versprecher. Es war vor sehr langer Zeit, als unser Urahn ein Buch schreiben wollte. Weil er mit leerem Magen nicht denken konnte, veranstaltete seine Sippe ein sagenhaftes Festmahl für ihn, und er langte mit solchem Appetit zu, daß er im Moment, da er sich anschickte, mit seinem Manuskript zu beginnen, plötzlich ein heftiges Bedürfnis nach einer Siesta verspürte. Das Problem war nur, daß er Angst hatte, seine Muse könnte beim Erwachen verschwunden sein. Ein wahres Dilemma! Da erschien ihm unser aller Vater, der heilige Ziri. Der fragte ihn, was ihn denn quäle. Unser Urahn erklärte ihm, daß er gleichzeitig den Wunsch verspüre, ein Nickerchen zu machen, und den unüberwindbaren Drang, seine Memoiren niederzuschreiben. Da rutschte dem heiligen Ziri, der zu seinen Lebzeiten ein großer Mäzen gewesen war, unglücklicherweise die Zunge aus. Statt ,Schreib nieder!’ sagte er: ,Kau wieder!’ - und seitdem haben wir nicht aufgehört wiederzukäuen.«
»So eine Geschichte hat mir mein Großvater nie erzählt.«
»Wie denn auch: mit vollem Mund kann man nicht reden. - Aber genug gelacht. Wie weit sind wir mit den drei Terroristen von gestern?«
»Um die kümmert sich Serdj.«
Jemand anderer hätte mich auch verwundert. Sein Büro liegt am Ende des Ganges direkt gegenüber den Toiletten. Es herrschen unerträglicher Qualm und Gestank. Man könnte es für das Labor eines zerstreuten Wissenschaftlers halten. Überall Papierstapel, Zigarettenstummel, die auf dem Fußboden verrotten, Aktenschränke, die dich mit offenen Armen empfangen, Schubladen, die dir die Zunge entgegenstrecken …
Serdj ist die treibende Kraft im Laden. Er kann nicht nein sagen, wenn man ihn um etwas bittet. Die Kollegen, die gleichzeitig mit ihm begonnen haben, sind heute entweder Kommissare oder hohe Funktionäre. Er aber humpelt gutmütig durch sein zwölftes Jahr als Inspektor auf der unteren Etage. Weil er nachgiebig und unersetzlich ist, verweigert man ihm jeden Lehrgang und jedes Stipendium, beides Voraussetzungen für eine Beförderung, in deren Genuß freilich nur kommt, wer gute Beziehungen hat oder wen man loswerden will.
Ich mache es mir auf einem Stuhl bequem und schlage die Beine übereinander. »Hat man die Terroristen identifiziert?«
»Das Mädchen ist der Abteilung unbekannt. Ihre Fingerabdrücke haben nichts gebracht. Was den Rothaarigen betrifft, handelt es sich um Daho Lamine, 31 Jahre, ledig. Sein Vater ist so stinkreich, daß er sich Socken nach Maß machen läßt.«
»Und der andere?«
»Brahim Boudar. Siebenunddreißig Jahre. Verheiratet, geschieden. Arbeitslos. Fünf Jahre Gefängnis wegen widernatürlicher Unzucht mit Minderjährigen. Zwei Jahre wegen absichtlicher Körperverletzung und schwerem Diebstahl. Neun Monate wegen Drogenkonsums. Verletzt und festgenommen im September ’93. 1994 aus Sidi Ghiles geflohen.«
»Das ist alles?«
»Brahim Boudar war einer der Hauptanstifter bei den Unruhen im Oktober ’88. Hat die Kaufhausbrände auf dem Gewissen, die Galeries Algeriennes in Kouba, den Souk El-Fellah von Cheraga und Boufarik.«
»War er zu dieser Zeit ein Islamischer Bruder?«
»Türsteher in einem Nachtlokal, dem Limbes Rouges.«
» Interessant.«
»Noch eine Kleinigkeit: Bei seiner Verhaftung im Oktober ’88 war seine rechte Hand ein gewisser Mourad Atti.«
Lino schlägt auf den Tisch: »Ich wußte, daß wir mit dieser Schwuchtel noch nicht fertig sind!«
Mit erhobenem Finger bringe ich ihn zum Schweigen. Ich stehe auf, die Brauen zu einem Strich zusammengezogen.
»Ich will Mourad Atti heute Punkt drei in meinem Büro.«
Serdj verzieht das Gesicht.
»Da gibt es einen Haken, Chef. Ich habe die Typen vom BdS kontaktiert. Sie haben mir in aller Form versichert, daß der Knabe bis heute nicht bei ihnen aufgetaucht ist.«
»Und die Überstellung?«
»Fehlanzeige. Das BdS erinnert sich nicht, irgend jemanden mit der Überstellung des Verdächtigen betraut zu haben. Die beiden Typen, die ihn abgeholt haben, waren falsch. Der Direktor hat sich hineinlegen lassen.«
»Wo ist er dann?«
»Da ist er, Kommissar!« Ein Gendarm führt mich durch die Hügellandschaft einer Mülldeponie.
Mourad Atti liegt mitten in einem Abfallhaufen. Flach auf dem Bauch. Den Hinterkopf von einem großkalibrigen Geschoß weggepustet. Um sein Hirn schwirrt eine Wolke von Fleischfliegen.
»Ein Stadtstreicher hat ihn gemeldet«, fügt der Gendarm hinzu und preßt sich ein Taschentuch vors
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