Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
zwischen zwei Zügen mit, soll soviel heißen wie:
er hat damit nichts am Hut.
Zwei Träume sind mir kurz vor Ende meiner
Laufbahn geblieben: meinen Ruhestand im Vollbe-
sitz meiner Kräfte zu genießen und dieses Mist-
stück so lange in der Mikrowelle zu schmoren, bis
sein Schädel krachend auseinanderfliegt. Nichts ist widerwärtiger, als von einem Untergebenen, der
sich im Schutz des Chefs sonnt, von oben herab
behandelt zu werden.
Der Treppenabsatz vom fünften Stock schwimmt
in Blut, das in alle Richtungen verläuft und stel-
lenweise schon über die Stufen tropft. Lino bewegt
sich mit dem Rücken zur Wand voran, um seine
Leinenschuhe nicht zu versauen.
Hie und da taucht ein Polizist auf der Suche nach
Indizien auf, während ein Fotograf ein Blitzlicht-
gewitter auf die Szenerie abschießt. Ben Ouda liegt 24
in der Diele, enthauptet, die Arme wie am Kreuz
ausgebreitet. Auf dem Sofa eine groteske Axt, über
und über voll mit bräunlichen Blutklumpen.
„Sein Kopf ist im Badezimmer, in der Kloschüs-
sel“, informiert mich der Brigadier, während er
sich mit einem Lappen Spuren von Erbrochenem
von der Uniformjacke wischt. „Wenn das so wei-
tergeht, kommen die Menschen in ein paar Genera-
tionen gleich mit nichts zwischen den Schultern
zur Welt.“
„Wieso? Haben sie denn heute was dazwischen?“
Lino ist nicht weit gekommen. Dieses Gemetzel
sieht er Tag für Tag, aber er kann sich einfach
nicht daran gewöhnen. Er sucht sich einen Tisch
als Halt und zündet sich eine Zigarette an, um nicht gleich loszukotzen.
Der Brigadier fügt hinzu: „In der Garderobe hat
sich ein Typ versteckt. Er weigert sich herauszu-
kommen.“
Ich folge ihm ins Schlafzimmer, das ganz in Rosa
gestrichen ist, mit männlichen Aktbildern an den
Wänden und Blumen in den Ecken. Links ein gro-
ßer Kleiderschrank mit leicht geöffneten Türflü-
geln. Ich gehe in die Hocke. Der Knabe kauert
ganz hinten im Schrank, den Kopf zwischen den
Schenkeln vergraben, und schlottert so sehr, daß
seine Zähne gegeneinanderschlagen.
„Kannst rauskommen, Kleiner. Alles vorbei.“
Es ist Ben Oudas Jüngling. Er ist wie betäubt,
leichenblaß, und scheint den Sinn meiner Worte
nicht verstanden zu haben. Er gibt eine Art Gur-
geln von sich und zieht sich noch ein bißchen tiefer ins Dunkle zurück.
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„Nun komm schon raus. Der schwarze Mann ist
weg.“
Seine Muskeln verhärten sich unter meinen Fin-
gern. Ich ziehe ihn behutsam zu mir her. Er läßt es geschehen wie ein Kind. Der Brigadier hilft ihm,
sich aufs Bett zu setzen, bietet ihm ein Glas Wasser an. Der Junge hat nicht die Kraft, den Arm zu heben. Er starrt uns mit irrem Blick an.
Plötzlich bricht es aus ihm heraus: „Nie hätte ich
gedacht, daß ein Mensch so schreien kann. Er
schrie, wie man gar nicht schreien kann. Ich glau-
be, seine Schreie werden für alle Zeiten in meinem
Kopf nachhallen.“
Ich bitte den Brigadier, sich um den armen Kerl
zu kümmern, und gehe ins Wohnzimmer zurück.
Lino hängt aufgelöst, mit zerzaustem Zopf, in ei-
nem Sessel. Er stiert zur Decke und merkt nicht,
daß seine Zigarette nicht mehr brennt.
Im Bad ist der Fotograf dabei, das Ding im Klo
zu verewigen. Ich komme näher. Der Kopf des
Diplomaten ist ein einziger Alptraum.
„Vorsicht, Kommissar“, warnt mich der Fotograf.
„Der Kopf ist vermint. Die Bombe ist direkt darun-
ter.“
Er deutet auf einen Draht, der raffiniert unter
dem Sitz versteckt ist.
„Sind die Spezialisten benachrichtigt?“
„Müssen jede Minute da sein.“
Ben Oudas Arbeitszimmer sieht aus, als wäre ein
Orkan durchgefegt. Umgestürzte Bücherregale,
ausgekippte Schubladen. An der Wand ein kleiner
Tresor mit klaffender Tür, völlig leergeräumt.
„Er hat Nachbarn gegenüber, unten drunter und
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oben drüber, und trotz des ganzen Lärms hat kein
Mensch was gesehen oder gehört.“
„Was willst du?“ seufzt ein Polizist. „Nach mir
die Sintflut!“
Die Lebensgeister des Jünglings kehren erst zu-
rück, als die Bombenspezialisten wieder weg sind.
Mittlerweile hat die Ambulanz auch die Leiche
abtransportiert.
Ich rücke einen Stuhl heran und sehe dem Jungen
ins Gesicht. „Na, geht’s schon besser?“
Er nickt kaum wahrnehmbar.
„Wie heißt du denn?“
„Toufik Salem.“
„Und wie alt bist du?“
„Neunzehn.“
„Erkennst du mich wieder?“
„Ja.“
„Was ist eigentlich passiert?“
Seine Augäpfel verdrehen sich. Ich greife
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