Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
er.
»Aber sicher«, sagte sie. »Oder ich bitte Foa, Sie am Ende Ihrer calle abzuholen.«
Brunetti musste erst einmal Luft holen, dann sagte er nur: »Nein, das ist zu umständlich. Wir treffen uns an den [142] Blumenständen.« Er legte auf, holte sein Jackett aus dem Schlafzimmer und verließ die Wohnung.
Nach wenigen Minuten hatte er den Markt erreicht und ging an den Fischen vorbei, deren strengen Geruch er schon immer geliebt hatte. Als er von einem großen Tintenfisch aufblickte, sah er Signorina Elettra, Sträuße in beiden Armen, vor ihrem Stand, der eigentlich kein Stand war, sondern nur eine Reihe mit Blumen vollgestopfte Plastikeimer. Damit, dass sie die Blumen hier und nicht bei dem Floristen Biancat kaufte, kam Signorina Elettra der Forderung Vice-Questore Pattas nach, alle unnötigen Ausgaben in der Questura zu vermeiden.
Brunetti hatte sich die Namen von Blumen nie gut merken können. Iris kannte er, weil er sie Paola so oft mitbrachte, und Nelken und Rosen waren leicht zu erkennen. Aber diese kleinen mit den gekräuselten Blüten: Wie die hießen, hatte er ebenso vergessen wie den Namen dieser prächtigen Kugeln, groß wie Orangen, mit unzähligen stachligen Blütenblättern. Gladiolen kannte er, aber deswegen mochte er sie noch lange nicht, und vom Duft der Lilien wurde ihm immer leicht übel.
»Guten Morgen, Commissario«, sagte sie mit strahlendem Lächeln, als er näher kam. Sie trug eine kobaltblaue Seidenjacke, vor der die roten und gelben Blüten noch farbenfroher wirkten. Als sie ihm drei Sträuße reichte, legte ihr die Verkäuferin gleich einige weitere in die Arme. Während er wartete, bekam Signorina Elettra gerade noch eine Hand zum Bezahlen frei. Eine Quittung gab es nicht: zweites Vergehen dieses Vormittags.
»Büroausstattung?«, fragte er und wies mit dem Kinn auf ihre Blumen, wobei er seine geflissentlich ignorierte.
[143] »Aber Commissario«, sagte sie im Tonfall höchster Überraschung, »Sie wissen doch, ich könnte niemals auch nur für eine Sekunde mit dem Gedanken leben, etwas zu tun, das gegen die Ausgabenvorschriften der Questura verstößt.« Als sie merkte, dass Brunetti nicht darauf eingehen würde, fuhr sie fort: »Ich habe zufällig eine Quittung für Druckerpatronen übrig. Die werde ich einreichen: Der Betrag ist ungefähr der gleiche.«
Brunetti wollte das nicht wissen. Er wollte das nicht wissen. Die Blumenhändlerin zahlte keine Steuern auf ihr Geschäft, jemand gab Signorina Elettra eine Quittung für irgendeinen privaten Einkauf, und die Questura zahlte für die Blumen, die sich wie durch Zauberhand in Druckerpatronen verwandelt hatten. Bevor er aufs Boot stieg und damit ein weiteres Mal gegen die Vorschriften verstieß, hörte er lieber auf, all diese Vergehen zu zählen.
Foa kam von links und nahm Signorina Elettra die Blumen ab. Das Polizeiboot lag mit laufendem Motor an der riva am anderen Ende des Markts, am Steuer ein uniformierter Beamter. Foa übergab ihm die Blumen, sprang ins Boot und half Signorina Elettra hinunter, dann nahm er die Blumen von Brunetti entgegen und ließ ihn allein an Bord kommen.
Brunetti hielt Elettra die Kabinentür auf und folgte ihr hinein. Als sie saßen und das Boot unter der Rialtobrücke durchfuhr, sagte er: »Signorina, haben Sie schon mal von einer Organisation namens Alba Libera gehört?«
Ihre Augen weiteten sich, als ihr plötzlich etwas einfiel. »Natürlich, natürlich. An die habe ich noch gar nicht gedacht.«
[144] Er nickte. »Sie war da Mitglied; oder jedenfalls Unterstützerin. Ihre Nachbarin sagt, sie habe Frauen bei sich aufgenommen.«
»Das erklärt die Unterwäsche«, sagte sie.
Brunetti wartete ein wenig, ehe er fragte: »Wissen Sie was über die?«
Signorina Elettra sah ihn ruhig an und ließ den Blick dann über die Gebäude schweifen, an denen sie vorüberfuhren. Schließlich antwortete sie: »Ein bisschen.«
»Darf ich fragen, was für ein bisschen?«
»Wie Sie schon sagten, Signore, die besorgen Frauen sichere Unterkünfte.«
»Frauen in Gefahr?«
»Eine Frau, die Kontakt mit ihnen aufnimmt, ist mit Sicherheit in einer Notlage.«
»Mehr braucht sie nicht zu sagen?«
»Man wird schon Beweise von ihr verlangen.«
»Was könnte das sein?«, fragte er ruhig.
»Polizeiberichte«, sagte sie. Und nach langer Pause: »Oder Krankenhausprotokolle.«
»Verstehe«, sagte er. »Mir scheint, Sie kennen sich da gut aus.« Er versuchte, das möglichst neutral und verständnisvoll zu
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