Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
wusste, die Gefahr war vorüber.
»Die Absicht, dich zum Essen auszuführen.«
»Du willst dir turbanti di soglie entgehen lassen - friedlich [222] in deinem Zuhause, im harmonischen Kreis deiner Familie?«, fragte sie, wobei sie ihn im Unklaren ließ, ob der Gedanke an seine Gegenwart oder an das Essen ihre Stimmung gehoben hatte.
»Ich versuche, pünktlich zu sein.«
»Gut«, sagte sie, und als er schon dachte, sie werde auflegen, fügte sie hinzu: »Freut mich, dass du hier sein wirst.« Dann war sie weg, und Brunetti hatte auf einmal das Gefühl, es sei wärmer oder irgendwie heller um ihn herum geworden. Über zwanzig Jahre, und sie vermochte es immer noch, dachte er; er schüttelte den Kopf, suchte die Nummer seines Freundes in Treviso heraus und rief ihn an.
Wie vermutet, hieß die Frau nicht Gabriela Pavon: Die Polizei in Treviso nannte ihm sechs Decknamen der Person, deren Fingerabdrücke überall in der Wohnung gewesen waren, die sie mit ihrem Gefährten geteilt hatte, aber ihr richtiger Name war nicht bekannt. Der Sizilianer - Brunetti sagte sich, er sollte endlich aufhören, ihn so zu nennen und als typischen Südländer zu sehen - war Chemielehrer in einer Berufsschule, nicht vorbestraft und, zumindest nach Ansicht der dortigen Polizei, das Opfer einer Straftat. Von der Frau fehlte jede Spur, und sein Freund meinte resigniert, man werde erst wieder von ihr hören, wenn sie irgendwo im Land erneut ihre Masche abziehen würde.
Brunetti erklärte ihm, was die Frau offenbar in Venedig getrieben hatte, worauf sein Freund ihn wenig begeistert bat, ihm einen Bericht zu schicken, »obwohl das auch nicht viel bringt. Sie hat kein Verbrechen begangen.«
Nach diesem Telefonat widmete er sich den Papieren, die Signorina Elettra ihm gegeben hatte. Signora Maria Sartori [223] war achtzig Jahre alt, geboren in Venedig; Benito Morandi war dreiundachtzig. Allein schon der Vorname sprach Bände darüber, in was für einer Familie er aufgewachsen war. Die beiden Namen zusammen aber riefen in Brunetti eine Vorstellung wach, als seien Ginger und Fred wieder vereint. Oder Bonnie und Clyde. Er sah von den Papieren auf, kramte in seinem Gedächtnis und ließ sich auf dem trägen Strom der Erinnerungen treiben. Irgendwas mit alten Leuten, aber nicht mit diesen beiden; andere alte Leute, als sie noch nicht alt waren. Es war eine Erinnerung aus sehr früher Zeit, vor Paola und allem, was mit ihr zusammenhing. Seine Mutter würde sich erinnern, dachte er, seine Mutter, wie sie früher einmal gewesen war.
Er wählte Vianellos Handynummer. »Bist du unten?«, fragte er, als der Ispettore sich meldete.
»Ja.«
»Kannst du mal eben raufkommen?«
»Schon unterwegs.«
Ablenkung half. Brunetti ging ans Fenster und starrte auf den Kanal; vielleicht half es seinem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn er die Namen einfach so in seinem Kopf herumgeistern ließ.
So traf Vianello ihn an: die Hände auf dem Rücken, versunken in den Anblick der Kirche oder des dreistöckigen Hauses für obdachlose Katzen, das man vor die Kirchenfassade gebaut hatte.
Vianello nahm schweigend auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Platz und wartete.
Ohne sich umzudrehen, sagte Brunetti: »Maria Sartori und Benito Morandi.«
[224] Von Vianello kam nur das Scharren seiner Absätze auf dem Boden, als er die Beine ausstreckte. Nach einiger Zeit atmete er hörbar auf. »Madame Reynard«, sagte er grinsend, weil er als Erster darauf gekommen war.
Jeder Venezianer ihrer Generation kannte die Geschichte. Nachdem Vianello den Namen genannt hatte, fiel auch Brunetti alles wieder ein. Madame Marie Reynard, eine legendäre Schönheit, war - konnte das sein? - vor Ewigkeiten zusammen mit ihrem Mann nach Venedig gekommen. Ihnen blieben noch etwa fünf Jahre, bis er bei einem spektakulären Unfall ums Leben kam. An die genauen Umstände konnte Brunetti sich nicht erinnern: Auto, Schiff, Flugzeug. Außer sich vor Trauer, erlitt sie eine Fehlgeburt, und nachdem sie davon genesen war, zog sie sich in ihren Palazzo am Canal Grande zurück, um das einsame Leben einer Witwe zu führen.
Er wusste nicht mehr, wann er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, aber schon bevor er in die scuola media kam, war Madame Reynard zur Legende geworden - typisches Schicksal trauernder Witwen, zumindest wenn sie reich und schön sind. Man sagte, dass die geheimnisvolle Französin niemals ihren Palazzo verließ oder dass sie nachts leise weinend durch die
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