Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Stadt wanderte, dass sie einzig Priestern Zutritt gewährte, mit denen sie, in ihren Witwenschleier gehüllt, endlose Rosenkränze für das Seelenheil ihres Mannes betete. Oder aber, dass sie, von Trauer zerfressen, gar niemand bei sich empfing. Nur zwei Konstanten gab es in diesen Geschichten: Sie war schön, und sie war reich.
Hundert Jahre hatte sie gelebt, drei Viertel davon im Witwenstand, als sie vor über zwanzig Jahren starb. Zum [225] Alleinerben hatte sie ihren Anwalt bestimmt - von dem in all den Legenden nie die Rede gewesen war: Er bekam den Palazzo mit allem, was darin war, Ländereien und Wertpapiere sowie das Patent auf ein Verfahren, mit dem man Baumwollfasern widerstandsfähiger gegen Hitze machen konnte. Genaueres war nicht bekannt - ebenso wenig, ob es wirklich Baumwolle war oder doch Seide oder Schafswolle -, auf jeden Fall erwies sich das Patent als unermesslich viel wertvoller als der Palazzo und alles andere.
»Natürlich, natürlich«, sagte Brunetti, als die winzigen Gestalten sich in seinem Gedächtnis zusammenfügten und Maria ihren Benito fand: Denn genau so - Sartori und Morandi - hießen die Zeugen, die Madame Reynards Testament beglaubigt hatten und als solche Gegenstand von Gerüchten und Spekulationen waren, die die Stadt monatelang in Atem hielten. Sie hatten im Krankenhaus gearbeitet, hatten die Sterbende vorher nicht gekannt, waren im Testament nicht als Begünstigte aufgeführt und wurden daher allgemein für unparteiisch gehalten.
»Gab es da nicht irgendwelche französischen Verwandten?«, fragte Vianello.
Brunetti stöberte in seinen verschütteten Erinnerungen und fand, was er suchte: »Nein, das waren Leute, die von dem Vermögen gelesen hatten und sich dachten, sie könnten es ja mal versuchen.« Allmählich fiel ihm immer mehr ein. »Aber es stimmt, das waren Franzosen«, sagte er.
Beide kramten weiter in ihrem Gedächtnis. »Und hat da nicht eine Versteigerung stattgefunden?«, fragte Vianello.
»Richtig«, sagte Brunetti. »Eine der letzten großen. Nach ihrem Tod. Es wurde alles verkauft.« Und da er mit Vianello [226] sprach, dem er so etwas sagen konnte, fügte er hinzu: »Mein Schwiegervater hat erzählt, sämtliche Sammler der Stadt seien damals erschienen. Ja, sämtliche Sammler aus dem Veneto.« Brunetti wusste von zwei Zeichnungen aus dieser Auktion. »Er hat zwei Blätter aus dem Skizzenbuch von Giovannino de Grassi erworben.«
Vianello schüttelte ahnungslos den Kopf.
»Vierzehntes Jahrhundert. In Bergamo haben sie ein vollständiges Skizzenbuch mit Zeichnungen - prächtig wie Gemälde - von Vögeln und Tieren und einem phantastischen Alphabet.« Sein Schwiegervater bewahrte die zwei Zeichnungen vor Licht geschützt in einer Mappe auf. Brunetti hielt seine Hände etwa zwanzig Zentimeter auseinander. »Es sind lose Blätter, ungefähr so groß. Wunderschön.«
»Wertvoll?«, fragte der wesentlich praktischer veranlagte Vianello.
»Genaues weiß ich nicht«, sagte Brunetti. »Aber ich nehme es an. Immerhin hat mein Schwiegervater erzählt, die meisten Interessenten seien wegen der Zeichnungen gekommen - das war nicht wie heute, wo man sich alle Gegenstände einer Versteigerung vorher online ansehen kann. Er sagt, Überraschungen gab es immer. Aber diesmal bestand die Überraschung darin, dass es nur so wenige Zeichnungen waren. Trotzdem gelang es ihm, diese beiden zu erwerben.«
»Ein Jammer, das mit Cuccetti«, meinte Vianello. Brunetti staunte, dass der Ispettore sich an den Namen des Anwalts erinnerte, der die Erbschaft abgeräumt hatte.
»Wieso? Weil er wenig später gestorben ist? Nach zwei Jahren?«
[227] »So ungefähr. Zusammen mit seinem Sohn. Der Sohn war am Steuer, oder?«
»Ja, und betrunken. Aber das wurde alles vertuscht.« Mit solchen Dingen hatten die beiden viel Erfahrung. »Cuccetti hatte viele einflussreiche Freunde«, fügte Brunetti hinzu.
Auf die düstere Feststellung Brunettis hin bemerkte Vianello trocken: »Das Testament wurde nicht angefochten, oder?«
»Nur von diesen Franzosen, und die wurden binnen kürzester Zeit abgeschmettert.« Brunetti nahm die Papiere vom Schreibtisch, die Signorina Elettra ihm gegeben hatte, und sagte: »Das hat sie herausgefunden.« Er las das erste Blatt und reichte es Vianello. Und so ging es in einträchtigem Schweigen weiter, bis sie den ganzen Stapel durchgelesen hatten.
Maria Sartori hatte als Hilfsschwester gearbeitet, erst im Ospedale al Lido, dann im Ospedale Civile, von wo sie
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