Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Maddalena. Was halten Sie von ihr?«, fragte sie so sachlich, dass ihr nicht anzuhören war, was sie selbst von ihr hielt.
[219] »Sie möchte anderen Menschen helfen«, antwortete Brunetti ebenso neutral.
»Das ist gewiss ein löbliches Anliegen«, räumte Signorina Elettra ein.
Brunetti fragte sich, wer von ihnen als Erster nachgeben und eine Meinung äußern würde.
»Sie erinnert mich ein wenig an jene Frauen in Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sich dafür engagieren, die Moral der niederen Klassen zu heben«, sagte sie.
Brunetti fragte sich, ob nach über einem Jahrzehnt Zusammenarbeit seine Weltanschauung auf sie abgefärbt haben könnte, erkannte aber sofort, dass er sich damit nur selbst schmeichelte: Signorina Elettra war von Natur aus mit einem reichlichen Vorrat an Skepsis ausgestattet.
Plötzlich hatte er von dem Geplänkel genug. »Eine ihrer Schutzbefohlenen hat bis zum Abend vor Signora Altavillas Tod bei ihr gewohnt, aber nun stellt sich heraus, dass diese Frau auch schon in anderen Häusern und unter ähnlichen Umständen gelebt hat ...«
»Und mit dem Silber durchgebrannt ist?«, scherzte Signorina Elettra.
»So etwa.«
Sie war offensichtlich überrascht, und das gefiel ihm. »Ihr Name?«, fragte sie.
»Gabriela Pavon, aber das ist wohl nicht ihr richtiger Name. Und der Mann, vor dem sie angeblich auf der Flucht ist, heißt Nico Martucci, ein Sizilianer. Dieser Name stimmt vermutlich. Lebt in Treviso.« Während Signorina Elettra schon die Namen notieren wollte, sagte er: »Bemühen Sie [220] sich nicht. Ich habe einen Freund in Treviso, den ich fragen kann. Das spart Zeit.«
Als er sich zum Gehen wandte, wies sie auf ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch und sagte: »Ich habe einiges über Signora Sartori und den Mann herausgefunden, mit dem sie zusammengelebt hat.«
»Die sind also nicht verheiratet?«, fragte er.
»Jedenfalls nicht nach den Unterlagen des Pflegeheims. Ihre gesamte Rente geht direkt dorthin, und ihr Gefährte Morandi zahlt den Rest.« Brunetti sah erstaunt drein, und sie erklärte: »Da sie nicht verheiratet sind, müsste er nicht zahlen. Aber er tut es.« Brunetti brachte das immer noch nicht mit dem Hitzkopf zusammen, dem er in Signora Sartoris Zimmer begegnet war.
»Was kostet das Heim?«, fragte er und dachte daran, was er und sein Bruder in all den Jahren für ihre Mutter bezahlt hatten.
»Beinahe zweitausendvierhundert im Monat«, sagte sie, und als er die Augenbrauen hochzog: »Es ist eins der besten in der Stadt.« Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken. »So sind die Preise nun mal.«
»Wie hoch ist ihre Rente?«, fragte er.
»Sechshundert Euro. Sie ist vorzeitig in den Ruhestand gegangen, vier Jahre, deshalb bekommt sie nicht den vollständigen Betrag.«
Bevor er sich aufs Rechnen verlegte, fragte Brunetti: »Und seine?«
»Fünfhundertzwanzig.« Zusammen deckten die beiden Renten nicht einmal die Hälfte der Kosten.
Der Mann hatte keinen wohlhabenden Eindruck gemacht; [221] und die Frau bei näherer Betrachtung ebenso wenig. Wenn er wirklich nur Rentner war und auch für sich selbst Miete, Nebenkosten und Essen bezahlen musste - wo nahm er dann das Geld für das Pflegeheim her?
Signorina Elettra reichte ihm die Papiere von ihrem Schreibtisch; zu seiner Überraschung waren es mehr als ein paar Blätter. Was konnten alte Leute wie diese beiden denn schon auf dem Kerbholz haben?
Er hielt den Packen theatralisch hoch. »Was ist das alles?«
Signorina Elettra sah ihn sibyllinisch an und raunte: »Ganz ereignislos ist ihr Leben nicht verlaufen.«
Zum ersten Mal an diesem Tag musste Brunetti lächeln. Er schwenkte die Papiere und meinte: »Ich seh’s mir an.« Sie nickte und wandte sich wieder ihrem Computer zu.
Von seinem Büro aus rief er als Erstes zu Hause an.
Paola meldete sich mit einem so unwirschen »Si«, dass selbst der abgebrühteste Telefonvertreter den Mut verloren hätte; und ihre Kinder wären bei diesem Ton in Panik nach Hause gelaufen und hätten ihre Zimmer aufgeräumt.
»›Und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Lande‹«, entfuhr es ihm.
»Guido Brunetti«, sagte sie immer noch ungnädig, »komm mir bloß nicht mit der Bibel.«
»Ich lese das Hohelied als Literatur, nicht als heiligen Text.«
»Und benutzt es, um zu provozieren«, sagte sie.
»Nicht anders als alle Apologeten des Christentums.«
»Was hegst du nur für Absichten«, sagte sie schon etwas freundlicher, und er
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