Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
das Gymnasium, auch wenn es auf russisch anders hieß. Liceo nannte es bei uns Gentile in seiner Reform, die das Ideal der humanistischen Studien über alles stellte. Gut, Lenins Kommunisten konnten so kommunistisch sein, wie sie wollten, das Gymnasium trauten sie sich nicht abzuschaffen. Nur so ein Emporkömmling, ein Parvenu, ein Halbanalphabet, eine Null wie dieser Minister kann auf so eine Idee kommen. Wie heißt er noch mal – Guastella?«
»Nein, Vastella«, sagte Signora Angelina.
Er hieß noch mal anders, aber der Commissario unterließ es, sie darauf hinzuweisen.
»Lillo und ich waren dicke Freunde, allerdings nicht von der Schule her, denn er war älter als ich. Als ich in der dritten Klasse des Gymnasiums war, hatte er gerade seinen Doktor gemacht. In der Nacht, als die Alliierten landeten, wurde Lillos Haus am Fuß des Crasto zerstört. Soweit ich weiß, war Lillo, als der Ansturm vorbei war, allein im Haus und schwer verletzt. Ein Bauer hat ihn gesehen, als italienische Soldaten ihn auf einen Lastwagen legten, er verlor sehr viel Blut. Das ist das letzte, was ich von Lillo gehört habe. Seitdem habe ich keine Nachricht mehr von ihm, und ich habe, weiß Gott, Nachforschungen angestellt!«
»Ist es möglich, daß es in seiner Familie keinen einzigen Überlebenden gibt?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Preside merkte, daß seine Frau irgendeinem Gedanken nachhing, sie hatte die Augen halb geschlossen und war weit weg.
»Angilina!« rief der Preside.
Die alte Dame fuhr zusammen und sah Montalbano lächelnd an.
»Sie müssen mir verzeihen. Mein Mann sagt immer, ich sei eine phantastische Frau, aber das soll kein Lob sein, es heißt nur, daß hin und wieder meine Phantasie mit mir durchgeht.«
Fünfzehn
Nach dem Abendessen mit den Burgios war er schon um zehn Uhr wieder zu Hause, zu früh zum Schlafengehen. Im Fernsehen gab es eine Diskussion über die Mafia, eine über die italienische Außenpolitik, eine dritte über die Wirtschaftslage, einen runden Tisch über die Verhältnisse in der Nervenklinik von Montelusa, eine Debatte über die Informationsfreiheit, einen Dokumentarfilm über kriminelle Jugendliche in Moskau, einen Dokumentarfilm über Robben, einen dritten über Tabakanbau, einen Gangsterfilm, der im Chicago der dreißiger Jahre spielte, die tägliche Sendung, in der ein ehemaliger Kunstkritiker und jetziger Abgeordneter und politischer Kommentator gegen Richter, linke Politiker und Feinde geiferte und sich für einen kleinen Saint-Just hielt, sich damit aber nahtlos in die Schar der Teppichverkäufer, Fußpfleger, Zauberer und Stripteasetänzerinnen einreihte, die immer häufiger über den Fernsehschirm flimmerten. Er schaltete den Fernseher aus, machte draußen Licht und setzte sich mit einer Zeitschrift, die er abonniert hatte, auf die Bank in der Veranda. Die Zeitschrift war gut aufgemacht und brachte interessante Artikel, geschrieben von einer Gruppe junger Umweltschützer aus der Provinz. Er las das Inhaltsverzeichnis durch und sah sich, da er nichts Interessantes fand, die Fotos an, die oft von Skandalen handelten und exemplarisch sein wollten, was sie auch tatsächlich manchmal waren.
Er war überrascht, als es an der Tür klingelte. Ich erwarte doch niemanden, dachte er, aber da fiel ihm ein, daß Anna ihn am Nachmittag angerufen hatte. Er hatte ihr den Wunsch, ihn zu besuchen, nicht abschlagen können, er fühlte sich in ihrer Schuld, weil er sie – auf gemeine Weise, er gab es ja zu – mit seiner erfundenen Geschichte benutzt hatte, um Ingrid von den Nachstellungen ihres Schwiegervaters zu erlösen.
Anna küßte ihn auf die Wangen und reichte ihm ein Päckchen.
»Ich habe dir petrafèrnula mitgebracht.«
Dieses Gebäck war kaum noch zu bekommen, Montalbano liebte es, und warum es die pasticceri nicht mehr herstellten, wußte kein Mensch.
»Ich hatte in Mìttica zu tun, da habe ich es in einem Schaufenster gesehen und für dich gekauft. Gib acht auf deine Zähne.«
Das Gebäck schmeckte um so besser, je härter es war. »Was hast du gerade gemacht?«
»Nichts, in einer Zeitschrift gelesen. Komm doch auch raus.« Sie setzten sich auf die Bank, Montalbano schaute weiter Fotos an, Anna stützte den Kopf in die Hände und sah aufs Meer hinaus.
»Wie schön es bei dir ist!«
»Mhm.«
»Man hört nur die Wellen rauschen.«
»Mhm.«
»Stört es dich, wenn ich rede?«
»Nein.«
Anna schwieg. Nach einer Weile sprach sie weiter. »Ich gehe rein, fernsehen. Mir ist ein
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