Commissario Montalbano 03 - Der Dieb der süssen Dinge
Herz, weil die Nachricht, die ich Ihnen in diesem Brief mitteilen will, schlimm ist. Seit vier Jahren, seit Signora Giulia, die zweite Frau Ihres Vaters, im Himmel ist, ist mein Sozius und Freund nicht mehr derselbe. Und letztes Jahr fing es an, daß er sich schlecht fühlte, er bekam keine Luft mehr, er mußte nur eine Treppe raufgehen, da wurde ihm schon schwindlig. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, zum Arzt zu gehen, er wollte einfach nicht. Und als mein Sohn im Dorf war, der in Mailand arbeitet und ein guter Arzt ist, bin ich mit ihm zu Ihrem Vater gegangen. Mein Sohn hat ihn untersucht. Er hat geschimpft und gesagt, Ihr Vater müßte ins Krankenhaus. Er hat so lange auf ihn eingeredet, bis Ihr Vater sich von ihm ins Krankenhaus bringen ließ. Dann ist mein Sohn nach Mailand zurückgekehrt. Ich habe Ihren Vater jeden Abend besucht, und nach zehn Tagen hat der Arzt zu mir gesagt, daß alles untersucht wurde und Ihr Vater diese schreckliche Lungenkrankheit hat. Von da an mußte er oft ins Krankenhaus, weil sie diese Behandlung mit ihm gemacht haben, bei der man alle Haare verliert, aber es hat überhaupt nicht geholfen. Er hat mir ausdrücklich verboten, Ihnen von seiner Krankheit zu erzählen, er hat gesagt, er will nicht, daß Sie sich Sorgen machen. Aber gestern abend habe ich mit dem Arzt geredet, und er hat gesagt, daß Ihr Vater am Ende ist, er hat nur noch einen Monat zu leben, einen Tag mehr oder weniger.Und da habe ich mir gedacht, daß ich Ihnen schreiben muß, wie es um Ihren Vater steht, obwohl er es mir strengstens verboten hat. Ihr Vater liegt in der Porticelli-Klinik, seine Telefonnummer ist 341234. Er hat ein Telefon im Zimmer. Aber vielleicht ist es besser, wenn Sie ihn besuchen und so tun, als wüßten Sie nichts von seiner Krankheit. Meine Telefonnummer haben Sie ja, es ist die vom Weingut, wo ich den ganzen Tag arbeite.
Es tut mir leid. Viele Grüße, Prestifilippo, Arcangelo
Montalbanos Hände zitterten leicht, und er hatte Mühe, den Brief in den Umschlag zurückzuschieben und in die Tasche zu stecken. Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn befallen, so daß er sich mit geschlossenen Augen im Stuhl zurücklehnen mußte. Das Atmen war auf einmal mühsam, als ob keine Luft mehr im Zimmer wäre. Schwerfällig stand er auf und ging zu Augello hinüber.
»Was ist denn?« fragte Mimi, als er sein Gesicht sah. »Nichts. Hör zu, ich hab' zu tun, das heißt, ich brauche eine Zeitlang Ruhe und will allein sein.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ja. Kümmere dich um alles. Wir sehen uns morgen. Und keine Anrufe zu mir nach Hause!«
Er ging in seinen Laden, kaufte eine große Tüte calia e simènza und machte sich auf den Weg entlang der Mole. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber er konnte keinen einzigen festhalten. Als er am Leuchtturm ankam, blieb er nicht stehen. Am Fuß des Leuchtturms befand sich ein großer Felsen, der mit glitschigem grünem Moos bewachsen war. Da kletterte er hinauf, wobei er bei jedem Schritt fast ins Wasser fiel, und setzte sich mit seiner Tüte in der Hand hin. Aber er machte sie nicht auf, er spürte eine Art Welle, die ihm von irgendwoher aus seinem Körper in die Brust stieg und dann weiter zur Kehle, wo sie einen Knoten bildete, der ihm die Luft nahm. Er hatte das dringende Bedürfnis zu weinen, aber er konnte nicht. Und dann drängten sich in dem Wirrwarr von Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, ein paar Worte mit Gewalt vor, bis sie einen Vers bildeten:
»Padre che muori tutti i giorni un poco… Vater, der du jeden Tag ein wenig stirbst…« Was war das? Ein Gedicht? Aber von wem? Woher kannte er es? Leise wiederholte er den Vers: »Padre che muori tutti i giorni un poco…« Und da kam aus seiner Kehle, die bis dahin wie zugeschnürt war, endlich der Schrei, aber es war weniger ein Schrei als vielmehr der durchdringende Klagelaut eines verletzten Tieres, und ihm folgten sofort die unaufhaltsamen und befreienden Tränen.
Als Montalbano im Jahr zuvor bei einem Schußwechsel verletzt worden war und im Krankenhaus gelegen hatte, erzählte Livia ihm, daß sein Vater jeden Tag anrief. Besucht hatte er ihn nur einmal, als er bereits rekonvaleszent war. Da mußte der Vater schon krank gewesen sein. Montalbano war er nur ein bißchen dünner vorgekommen, das war alles. Aber er war noch eleganter als sonst; er hatte immer Wert darauf gelegt, sich gut zu kleiden. Bei dieser Gelegenheit fragte er seinen Sohn, ob er etwas brauche. »Ich kann mir das
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