Commissario Montalbano 03 - Der Dieb der süssen Dinge
Brief schreiben und ihm für seinen großzügigen Freundschaftsdienst danken). Ich hatte Gelegenheit, Francois ein paar Minuten lang zu beobachten, während er mit Augellos gleichaltrigem Neffen spielte: Er war fröhlich und unbeschwert. Und als er mich dann sah (er hat mich sofort erkannt), änderte sich sein Gesichtsausdruck, plötzlich war er irgendwie traurig. Bei Kindern setzt die Erinnerung zeitweilig aus wie bei alten Menschen: Bestimmt mußte er an seine Mutter denken. Er hat mich fest umarmt, mich mit glänzenden Augen angeschaut, aber nicht geweint - ich glaube, er weint nicht so leicht -, und mir dann nicht die Frage gestellt, die ich befürchtet hatte, nämlich ob ich etwas von Karima wüßte. Er hat nur leise gesagt:
»Bring mich zu Livia.«
Nicht zu seiner Mutter, zu Dir. Er muß zu der Überzeugung gekommen sein, daß er seine Mutter nie mehr wiedersehen wird. Und das entspricht leider der Wahrheit.
Du weißt, daß ich aus trauriger Erfahrung von Anfang an überzeugt war, daß Karima umgebracht worden war. Um zu erreichen, was ich vorhatte, mußte ich in einer riskanten Aktion die Komplizen des Mörders dazu bringen, sich zu erkennen zu geben. Der nächste Schritt bestand darin, sie zu zwingen, Karimas Leichnam auffinden zu lassen, und zwar so, daß er zweifelsfrei identifiziert werden konnte. Es ist, Gott sei Dank, geglückt. So konnte ich mich »offiziell« um Francois' Angelegenheiten kümmern, der inzwischen für mutterlos erklärt wurde. Sehr hilfreich war der Questore, der all seine Kontakte aktiviert hat. Wenn Karimas Leichnam nicht gefunden worden wäre, hätte mir die Bürokratie unendlich viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, und unser Problem wäre noch jahrelang nicht gelöst.
Ich merke gerade, daß mein Brief zu lang wird, deshalb jetzt in Kurzform:
1. Francois befindet sich vor dem tunesischen und unserem Gesetz in einer paradoxen Lage. Er ist ein nichtexistierendes Waisenkind, weil seine Geburt weder in Sizilien noch in Tunesien registriert ist.
2. Der Richter in Montelusa, der sich mit diesen Dingen befaßt, hat Francois' Situation insoweit geregelt - nur bis die bürokratische Seite erledigt ist -, als er ihn vorübergehend der Obhut von Mimis Schwester anvertraut hat.
3. Dieser Richter hat mir auch erklärt, daß eine Adoption durch eine unverheiratete Frau in Italien theoretisch schon möglich sei, aber er hat hinzugefügt, das sei in Wirklichkeit leeres Geschwätz. Er hat mir von einer Schauspielerin erzählt, die sich seit Jahren mit Amtsbescheiden, Gutachten und Urteilsformeln herumschlägt, die sich alle widersprechen.
4. Nach Meinung des Richters sollten wir, um Zeit zu sparen, am besten heiraten.
5. Bereite also alle Unterlagen vor. Ich umarme und küsse Dich. Salvo
p.s. Ein Notar aus Vigàta, mit dem ich befreundet bin, wird einen Fonds von einer halben Milliarde verwalten, der auf Francois' Namen angelegt ist und über den er verfügen kann, wenn er volljährig ist. Ich finde es richtig, daß »unser« Sohn offiziell in dem Augenblick geboren wird, in dem er unser Haus betritt, aber mehr als richtig finde ich es, daß die Frau, die seine richtige Mutter war und der das Geld gehörte, ihm dabei hilft, sein Leben zu bestreiten.
»IHR VATER IST AM ENDE WENN SIE IHN NOCH MAL SEHEN WOLLEN DÜRFEN SIE KEINE ZEIT VERLIEREN. PRESTIFILIPPO ARCANGELO.«
Montalbano hatte diese Nachricht erwartet, aber als er sie las, kehrte der Schmerz zurück, dumpf wie damals, als er von der Krankheit seines Vaters erfahren hatte, aber schlimmer noch durch die Angst vor dem, was jetzt seine Pflicht war - sich über das Bett zu beugen, seinem Vater die Stirn zu küssen, den brüchigen Atem des Sterbenden zu hören, ihm in die Augen zu sehen, irgendwas Tröstliches zu sagen.
Würde er die Kraft dazu haben? Schweißgebadet dachte er, daß dies die unvermeidliche Prüfung war, wenn es wirklich notwendig war, erwachsen zu werden, wie Professor Pintacuda gesagt hatte.
Francois soll später einmal keine Angst vor meinem Tod haben, dachte er. Und bei diesem Gedanken, der ihn schon deshalb erstaunte, weil er ihn gedacht hatte, wurde es ihm vorübergehend leichter ums Herz.
An der Ortseinfahrt von Valmontana sah er nach vier Stunden Fahrt ein Schild, das den Weg zur Porticelli-Klinik anzeigte.
Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz der Klinik ab und stieg aus. Er spürte sein Herz direkt unter dem Adamsapfel klopfen.
»Ich heiße Montalbano. Mein Vater ist hier Patient, ich möchte ihn
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