Commissario Montalbano 03 - Der Dieb der süssen Dinge
leisten«, hatte er gesagt.
Wann hatte diese schleichende Entfremdung zwischen ihm und seinem Vater begonnen? Er war, das konnte Montalbano nicht leugnen, ein fürsorglicher und liebevoller Vater gewesen. Er hatte alles getan, ihm den Verlust der Mutter so leicht wie möglich zu machen. Die glücklicherweise wenigen Male, die er als Kind krank gewesen war, war sein Vater nicht ins Büro gegangen, um ihn nicht allein zu lassen. Was war es dann, was nicht funktioniert hatte? Vielleicht herrschte ein fast völliger Mangel an Kommunikation zwischen ihnen; keiner von beiden fand je die richtigen Worte, um dem anderen gegenüber seine Gefühle auszudrücken. Als Montalbano noch sehr jung war, hatte er oft gedacht: Mein Vater ist so verschlossen. Und wahrscheinlich - doch das begriff er erst jetzt, als er da oben auf dem Felsen saß - hatte sein Vater dasselbe von ihm gedacht. Aber er hatte großes Feingefühl gezeigt, als er abwartete, bis sein Sohn promoviert und sich erfolgreich beworben hatte, und dann erst wieder heiratete. Doch als der Vater seine neue Frau ins Haus brachte, fühlte sich Montalbano aus unerfindlichen Gründen gekränkt. Eine Wand hatte sich zwischen sie beide geschoben, eine gläserne zwar, aber eben eine Wand.
Und so kam es allmählich, daß sie sich nur noch ein- oder zweimal im Jahr sahen. Sein Vater kam für gewöhnlich mit ein paar Kisten Wein von seinem Weingut, blieb einen halben Tag und fuhr dann wieder ab. Montalbano schmeckte der Wein ausgezeichnet, und stolz bot er ihn seinen Freunden mit den Worten an, sein Vater habe ihn gemacht. Aber hatte er ihm selbst, seinem Vater, jemals gesagt, daß der Wein ausgezeichnet war? Er strengte sein Gedächtnis an: Nie. So wie sein Vater die Zeitungsausschnitte sammelte, in denen etwas über den Sohn stand, oder ihm die Tränen kamen, wenn er ihn im Fernsehen sah. Aber wenn Montalbano einen Fall erfolgreich abgeschlossen hatte, gratulierte er ihm nie persönlich.
Über zwei Stunden saß er auf dem Felsen, und als er dann aufstand, um ins Dorf zurückzufahren, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er würde seinen Vater nicht besuchen. Wenn er ihn sähe, würde er sicher begreifen, wie schwer krank er war, und alles würde nur noch schlimmer. Er wußte auch gar nicht, ob der Vater seinen Besuch genießen könnte. Außerdem erschreckten ihn Sterbende, es graute ihm vor ihnen. Er war nicht sicher, ob er den Schrecken und das Grauen, seinen Vater sterben zu sehen, ertragen könnte, er würde, einem Nervenzusammenbruch nahe, bestimmt das Weite suchen.
Als er in Marinella ankam, spürte er immer noch eine beklemmende, bleierne Müdigkeit. Er zog sich aus, schlüpfte in die Badehose und ging schwimmen. Er schwamm, bis er Krämpfe in den Beinen bekam. Dann kehrte er nach Hause zurück und wußte, daß er nicht in der Lage sein würde, zusammen mit dem Questore zu Abend zu essen. »Pronto? Hier ist Montalbano. Ich bedaure es sehr, aber…«
»Können Sie nicht kommen?«
»Tut mir furchtbar leid, nein.«
»Arbeit?«
Warum sollte er ihm nicht die Wahrheit sagen? »Nein, Signor Questore. Ich habe einen Brief bekommen, in dem es um meinen Vater geht. Er liegt im Sterben.« Der Questore sagte nicht sofort etwas; der Commissario hörte deutlich, wie er tief Luft holte. »Montalbano, wenn Sie ihn besuchen wollen, auch für längere Zeit, dann tun Sie das. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich kümmere mich darum, daß Sie vorübergehend vertreten werden.«
»Nein, ich fahre nicht hin. Vielen Dank.« Auch jetzt sagte der Questore nichts; bestimmt waren ihm die Worte des Commissario nahegegangen, aber er wußte, was sich gehörte, und kam nicht mehr darauf zu sprechen.
»Montalbano, ich bin befangen.«
»Das brauchen Sie bei mir nicht zu sein.«
»Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen bei unserem Abendessen zweierlei sagen wollte?«
»Natürlich.«
»Ich sage es Ihnen jetzt am Telefon, auch wenn mich das, wie gesagt, befangen macht. Und vielleicht ist es auch nicht gerade der richtige Augenblick, aber ich fürchte, Sie könnten es von anderer Seite erfahren, was weiß ich, aus der Zeitung… Sie wissen es wahrscheinlich nicht, aber ich habe vor fast einem Jahr meine Versetzung in den Ruhestand beantragt.«
»Oddio, Sie wollen doch nicht sagen…«
»Doch, sie wurde mir bewilligt.«
»Aber warum wollen Sie denn gehen?«
»Weil ich mit der Welt nicht mehr im Einklang bin und mich müde fühle. Ich nenne dieses Spiel mit den Ergebnissen der Fußballwetten
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