Commissario Montalbano 09 - Die dunkle Wahrheit des Mondes
Fällen seine Töchter hätten sein können. Die beiden Ehefrauen hatten etwas gemeinsam, das heißt, die Begegnung mit dem Professore bot ihnen die Aussicht auf Befreiung aus Situationen, die zumindest schwierig waren: Die erste Frau kam aus einer Familie von Hungerleidern, die zweite war auf dem besten Weg, in einem dunklen Sumpf aus Prostitution und Drogen zu versinken. Als er sie heiratete, versicherte er sich zuallererst ihrer Dankbarkeit. Wollen wir nun die angemessenen Worte gebrauchen oder nicht? Der Professore übte bei ihnen so etwas wie indirekte Erpressung aus: Er errettete sie aus Armut oder chaotischen Verhältnissen unter der Voraussetzung, dass sie bei ihm blieben, auch wenn sie wussten, wie es um ihn bestellt war. Von wegen Güte und Verständnis, wie Elena das sah! Zweitens, die Tatsache, dass er darüber bestimmte, mit welchem Mann die erste Ehefrau ihre natürlichen Bedürfnisse als junge Frau befriedigen durfte, war durchaus kein Zeichen von Großzügigkeit: Es war vielmehr eine raffinierte Art, sie noch fester an die Kette zu legen. Es war unter anderem ein Weg, der, wie man zu sagen pflegt, ehelichen Pflicht durch einen von ihm eigens dafür ausgesuchten Stellvertreter nachzukommen. Und außerdem musste die Ehefrau ihn über jedes Zusammentreffen mit dem Geliebten verständigen und ihm auch hinterher in allen Einzelheiten davon berichten. Denn immerhin ist es nach dem einen Mal, als dem Professore ein Treffen vorenthalten worden war, zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen. Der zweiten Ehefrau hatte der Professore, nach seiner Erfahrung mit der ersten, stattdessen alle Freiheiten bei der Auswahl ihrer Männer gelassen, sofern die Verpflichtung eingehalten wurde, ihm vorab den Tag und die Stunde der Besteigung anzukündigen (konnte man die Sache etwa anders bezeichnen?).
Aber warum nur hatte der bedeutende Professore, der die völlige Pleite seiner Natur doch genau kannte, sich zweimal verheiraten wollen?
Beim ersten Mal mochte er ja vielleicht noch geglaubt haben, dass ein Wunder geschehen könnte, um Elenas Worte zu gebrauchen, und die Sache damit behoben wäre. Doch das zweite Mal? Warum war er da nicht gewarnt? Warum hatte er sich nicht, sagen wir, mit einer Witwe eines gewissen Alters und mit reichlich beruhigten Sinnesaufwallungen wiederverheiratet? Musste er in seinem Bett den Duft von jungem Fleisch atmen? Wer glaubte er denn eigentlich zu sein? Mao Tse-tung? Und dann war da im Gespräch mit Paola am gestrigen Abend (apropos, denk dran, sie will, dass du sie anrufst) ein Widerspruch aufgetaucht, der vielleicht bedeutsam war, vielleicht aber auch nicht. Elena hatte nämlich behauptet, dass sie nicht mit Angelo ins Kino oder ins Restaurant gehen wollte, um den Leuten keinen Anlass zu liefern, sich auf Kosten ihres Mannes zu amüsieren, wohingegen Paola gesagt hatte, dass sie die Nachricht über die Beziehung zwischen seiner Ehefrau und Angelo vom Professore selbst bekommen habe. Während die Frau also alles tat, damit die Stadt nichts über die dem Ehemann aufgesetzten Hörner erfuhr, zögerte der Mann nicht zu erklären, dass seine Frau ihm die Hörner aufsetzte. Und außerdem wirkte der Professore nach Paolas Ansicht durcheinander, und zwar wegen des gewaltsamen Todes des Geliebten seiner Frau. Was sagt man denn dazu? Er stand auf, trank seinen Espresso, duschte und rasierte sich, doch als er fertig war, um aus dem Haus zu gehen, überkam ihn plötzlich die Lustlosigkeit. Schlagartig war ihm nicht mehr danach zumute, ins Büro zu gehen, Menschen zu sehen, zu reden.
Er ging auf die Veranda: Der Tag schien wie aus Porzellan. Er traf die Entscheidung, die ihm sein Körper diktierte. »Catarella? Montalbano hier. Heute Morgen komme ich später.«
»Dottori ah Dottori, ich wollte sagen …« Er legte auf, nahm die beiden Blätter, die Catarella ihm ausgedruckt hatte, und das Heftchen mit den Kanzonetten und legte sie auf den kleinen Tisch auf der Veranda.
Er ging wieder hinein, blätterte im Telefonbuch, fand die Nummer, die er suchte, und wählte sie. Während das Telefon läutete, blickte er auf die Uhr: Es war neun, die richtige Zeit, um eine Professoressa anzurufen, die nicht zur Schule gegangen ist.
Das Telefon klingelte lange, ohne dass jemand antwortete, und Montalbano wollte schon alle Hoffnung aufgeben, als er hörte, dass am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde.
»Ja bitte?«, sagte eine leicht erzürnte männliche Stimme. Das hatte der Commissario nicht erwartet,
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