Commissario Montalbano 09 - Die dunkle Wahrheit des Mondes
behauptet, diese Briefe habe sie unter Angelos Diktat geschrieben. Aber dafür gibt es keinen Beweis, es sind lediglich Behauptungen, die sich jeder Überprüfung entziehen. Und die Erklärungen, die sie für das Motiv gibt, weswegen Angelo sie diese Briefe habe schreiben lassen, sind sehr, sagen Sie es nur, lieber Signor Commissario, sehr nebulös.
Für den Abend des Mordes hat Elena kein Alibi. (Achtung: Sie hatten den Eindruck, dass sie etwas verbirgt, vergessen Sie das nicht!) Sie sagt, sie sei mit dem Auto herumgefahren, ohne genaues Ziel, mit der einzigen Absicht, sich selbst zu beweisen, dass sie auch ohne Angelo auskommen könne. Halten Sie das Fehlen eines Alibis für jenen Abend etwa für völlig unerheblich? Über Elenas blinde Eifersucht gibt es, abgesehen von den Briefen, die Aussage von Michela. Eine zweifelhafte Aussage, gewiss, aber vor dem Ermittlungsrichter hätte sie ihr Gewicht.
Wollen Sie, lieber Commissario, dass ich Ihnen ein Szenario entwerfe, das Ihnen mit Sicherheit keine Freude bereiten wird? Lassen Sie mich einen Augenblick in das Gewand des Ermittlungsrichters Tommaseo schlüpfen. Elena, längst sicher, dass Angelo sie betrügt, und rasend vor Eifersucht, bewaffnet sich an diesem Abend - wo und wie sie sich die Waffe beschafft, finden wir später heraus - und stellt sich vor der Villa auf, in der Angelo wohnt. Doch vorher hat sie den Geliebten noch angerufen, um ihm zu sagen, dass sie nicht kommen kann. Angelo tappt in die Falle, lässt die andere Frau kommen und bringt sie, um sicherer vor Entdeckung zu sein, in das Zimmer auf der Terrasse. Aus Gründen, die wir vielleicht noch aufdecken, vielleicht aber auch nicht, schlafen die beiden nicht miteinander. Doch das weiß Elena nicht. Und die Sache ist ja in einem gewissen Sinn sowieso nicht entscheidend. Als die Frau weggeht, betritt Elena das Haus, geht in das Zimmer auf der Terrasse, streitet sich mit Angelo oder auch nicht und schießt auf ihn. Und dann zieht sie ihm, als letzte Beleidigung, den Reißverschluss der Jeans auf und bringt, nennen wir's mal so, den Streitgegenstand ans Licht.
Diese Rekonstruktion, das weiß ich selbst, ist dünn. Aber glauben Sie etwa, Tommaseo würde sein Brot nicht da eintunken? Der stürzt sich doch mit Pferd und Karren kopfüber in eine solche Geschichte. Ich sehe Ihre Elena in keiner guten Position, Hochwertester.
Und Sie, mit Verlaub, tun nicht Ihre Pflicht, die darin bestehen würde, dass Sie dem Ermittlungsrichter sagen, wie die Dinge liegen. Und weil ich mich in der unglücklichen Lage befinde, Sie sehr gut zu kennen, weiß ich, und das ist das Schlimmste an dieser Sache, dass Sie auch nicht die geringste Absicht hegen, Ihre Pflicht zu tun.
Also bleibt mir nichts anderes, als diese bedauerliche, parteiische Handlungsweise einfach zur Kenntnis zu nehmen.
Sie hingegen werden so schnell wie möglich aufklären müssen, was der in dem Heftchen mit den Kanzonetten enthaltene Code darstellt, worauf er sich bezieht und was zum Teufel es mit dem ersten Ordner auf sich hat, den Catarella geöffnet hat. Drittens. Michela Pardo.
Trotz der unzweifelhaften Neigung dieser Frau zur griechischen Tragödie halten Sie sie angesichts der Fakten nicht für fähig, einen Brudermord zu begehen. Aber es ist unbenommen, dass Michela zu jeder Schandtat bereit wäre, sofern nicht der Name des Bruders befleckt wird. Und sicher weiß sie hinsichtlich der Geschäfte von Angelo mehr, als sie sagt. Außerdem hegen Sie, hochwerter Freund, den Verdacht, dass Michela, Ihre Gutmütigkeit ausnutzend, etwas hat verschwinden lassen, das für die Klärung des Falls möglicherweise von entscheidender Bedeutung ist. Und damit schließe ich.
Mit den besten Wünschen für ein gutes Gelingen, Ihr untertänigster SALVO MONTALBANO
Elf
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker, Montalbano wachte auf, doch statt aus lauter Angst vor bösen Gedanken über Alter, Hinfälligkeit, Alzheimer und Tod eilig aus dem Bett zu springen, blieb er liegen. Ihm war der sehr verehrte Professor Emilio Sclafani eingefallen, den persönlich selber kennenzulernen er noch nicht das Vergnügen hatte, der es aber dennoch verdiente, dass man über ihn nachdachte. Ja, ja, der Professore hatte ein klitzekleines bisschen Wertschätzung ganz sicher verdient.
Erstens, weil er ein Impotenter war, der es sich hartnäckig in den Kopf gesetzt hatte, sich mit jungen Frauen zu verheiraten, ob mit oder ohne Erfahrung spielte keine Rolle, junge Frauen, die in beiden
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