Commissario Montalbano 13 - Das Ritual der Rache
sich, erblickte er auf der linken Seite die Berge, in denen sich Orte wie Assoro, Agira, Regalbuto oder Centuripe befanden, und er begriff, warum er sich von Marinella aus auf den Weg gemacht hatte. Natürlich hatte die Ermittlung damit zu tun, und zwar in erster Linie, doch wahr war auch, dass er die Landschaft seiner Jugend wiedersehen wollte, als er in der Funktion eines Vicecommissario in Mascalippa war. Wie jetzt?! Hatte ihn dieser Ort etwa nicht in tiefste Depressionen gestürzt? War ihm in Mascalippa nicht sogar die Luft auf die Nerven gegangen, die nach Stroh und Gras roch? Alles richtig, alles die reine Wahrheit, und ihm fiel ein Satz von Brecht ein: »Warum sollte ich die Fensterbank mögen, von der ich als Kind gestürzt bin?« Doch seinem Gefühl nach war dieser Satz nicht zutreffend. Denn bisweilen, wenn du gewissermaßen schon alt bist, kehrt die verhasste Fensterbank, von der du als Kind gefallen bist, mit solchem Nachdruck in die Erinnerung zurück, dass du dich auf eine Wallfahrt begeben würdest, nur um sie zu sehen, wie du sie damals, mit unschuldigem Blick, gesehen hast.
Wolltest du das wiederfinden?, fragte er sich, während er im Schritttempo über die Autobahn Enna–Catania fuhr und die unglückseligen Autofahrer, die dieselbe Strecke fuhren, in den Wahnsinn trieb. Glaubst du, wenn du diese Berge aus der Distanz betrachtest, diese Luft aus der Distanz atmest, dass sie dir die Naivität, die Arglosigkeit, die Begeisterung deiner ersten Jahre bei der Polizei zurückgeben können? Also wirklich! Sei doch vernünftig, Commissario, nimm es hin, dass du das, was du verloren hast, für immer verloren hast. Schlagartig fuhr er schneller, ließ die Landschaft hinter sich. Die Autobahn Catania–Messina war nicht sehr befahren, sodass er sich immerhin um halb eins bereits auf dem Fährschiff befand. Von Vigàta nach Messina hatte er, weil er um sieben abgefahren war, fünfeinhalb Stunden gebraucht. Jemand wie Fazio hätte bei ganz normalem Tempo zwei Stunden weniger gebraucht. Nachdem das Fährschiff die Madonnenstatue hinter sich gelassen hatte, die an der Hafeneinfahrt allen Glück und Gesundheit wünschte, fing es an zu schaukeln, weil das Meer leichten Seegang hatte, und die salzige Luft rief bei Montalbano höllischen Appetit hervor. Am Abend zuvor hatte er nichts essen können. Eilig stieg er eine kleine Treppe hoch, die zur Café-Bar führte. Auf der Theke stand ein Berg ganz heißer Arancini. Er kaufte zwei davon an der Kasse und ging auf die Brücke hinaus, um sie zu essen. Er machte sich an den ersten, und mit einem Biss verkleinerte er ihn auf die Hälfte, und von dieser Hälfte schluckte er eine beachtliche Menge hinunter. Auf der Stelle wurde ihm bewusst, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Wie konnte man diese in hundertjährigem Öl frittierten Reisbällchen nur Arancini nennen, erinnerten sie doch an von einem wild halluzinierenden Koch zubereitete Supplì? Und wie säuerlich die Fleischsoße schmeckte! Er spuckte den Rest des Arancino, den er noch im Mund hatte, ins Meer und bereitete dem noch unangerührten ebenso wie dem noch zur Hälfte vorhandenen Arancino das gleiche Ende. Er kehrte in die Bar zurück und trank ein Bier, um den üblen Geschmack aus dem Mund zu spülen. Während er seinen Wagen vom Fährschiff manövrierte, stiegen in seinem Hals unversehens der Bissen von dem verschluckten, ekelhaften Arancino und das Bier wieder hoch. Die Säure brannte dermaßen, dass er, ohne es zu merken, das Lenkrad herumriss. Und er fand sich quer auf der Fahrrampe stehend wieder, sodass die Motorhaube seines Wagens zum Meer gewandt war.
»Was machen Sie denn da für einen Scheiß?«, schrie ihn der Matrose an, der die Ausschiffungsoperation leitete.
Völlig verschwitzt brachte er sich mit geduldiger Millimeterarbeit wieder in die richtige Position, während hinter ihm ein Lastwagenfahrer, das sah man ihm an, ernsthaft in Erwägung zog, ihm hinten reinzufahren und ihn entweder auf den Kai oder ins Meer fliegen zu lassen, ganz nach Belieben.
In Villa San Giovanni ging er in eine Trattoria für Lastwagenfahrer essen, in der er schon zweimal gewesen war. Und auch beim dritten Mal wurde er nicht enttäuscht. Eineinhalb Stunden später, also gegen drei Uhr nachmittags, setzte er sich wieder ins Auto in Richtung Gioia Tauro. Er hatte die Autobahn genommen, und im Handumdrehen war er an Bagnara vorbei. Er fuhr auf der A3 weiter und hatte noch gut zwanzig Kilometer bis Gioia Tauro vor
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