Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
die Speisekarte zu und richtete den Blick auf Lissie. Seine Toni-Sailer-Augen glitzerten.
»Frau von Spiegel, ich will ganz offen sein. Ich glaube Ihnen nicht.« Dabei strahlte er übers ganze Gesicht, als habe er ihr gerade die Weihnachtsbotschaft verkündet.
Lissie hatte schon nach ihrem letzten Treffen ganz genau gewusst, dass der Alte die Story über die familiäre Spurensuche, die sie ihm aufgetischt hatte, nicht geschluckt hatte. Der Grund für ihre Schnüffeleien würde ihm bestimmt keine Ruhe lassen. Außerdem war Lissie sicher, dass Kirchrather etwas wusste. Aber was?
War es dieser Chinese Sun Tsu – oder einer der anderen beiden Chefstrategen, Clausewitz oder vielleicht doch Machiavelli? –, der empfohlen hatte, man solle den Zeitpunkt der Schlacht selbst bestimmen? Wahrscheinlich alle drei. Mit der Absicht, diese Taktik in die Tat umzusetzen, war Lissie am Vormittag in die Buchhandlung marschiert. Sie hatte Glück, Kirchrather war da und stand hinter der Kasse.
Lissie gab zunächst vor, sie würde den Alten gar nicht sehen. Kirchrather ging genau da in die Offensive, wo sie es erwartet hatte, in einer Ecke, wo er ihr prima den Weg verstellen konnte. Um ihm zu entkommen, hätte sie ihn schon unsanft beiseiteschubsen oder einen Krimiständer umschmeißen müssen. Als er sich vor ihr aufbaute, tat sie erschrocken. So, als sei es ihr unangenehm, ihn wiederzutreffen. Nach gespieltem Sträuben, aber innerlich frohlockend, hatte sie sich dann von dem Buchhändler zum Mittagessen in die Verdinser Klause einladen lassen.
Gerade war Kirchrather dabei, ihr großzügig Wein nachzuschenken. Vermutlich beabsichtigte er, damit ihre Zunge zu lockern. Lissie streckte ihre Hand aus, um ihr Glas aus seiner Reichweite zu entfernen. Natürlich hätte sie sich zu gern ein paar ordentliche Schlucke genehmigt, aber sie riss sich am Riemen.
»Frau von Spiegel, Sie machen auf mich einen hochprofessionellen Eindruck. Wenn Ihre Geschichte stimmen würde, hätten Sie vor Ihrem Aufenthalt in Meran die geschichtlichen Hintergründe genau studiert«, führte Kirchrather ins Feld – nicht zu Unrecht. »Es hat mehrere Terrorwellen, zahlreiche politische Verästelungen und eine Reihe entscheidender Akteure gegeben, die man kennen muss. Von all dem haben Sie offenkundig keine Ahnung. Bei unserem letzten Gespräch hatten Sie bloß ein paar Brocken parat, mit denen Sie mich ködern wollten. Was sagen Sie dazu?«
Treffer, versenkt, dachte Lissie. Sie lächelte ein wenig hilflos und nippte an ihrem Wein. Den Blick jetzt schräg nach unten driften lassen, dann die Augen suchend und ein wenig entschuldigend hoch zu dem Alten.
»Nun ja«, setzte Lissie absichtlich unbeholfen an. »Fakt ist, ich habe Sie nicht angelogen, Herr Kirchrather, ich habe Ihnen bloß nicht alles erzählt.«
»Da bin ich jetzt aber mal gespannt, Frau von Spiegel, wie Sie mir die Löcher in Ihrer Geschichte wegerklären wollen«, erwiderte der Alte spöttisch und fixierte sie mit diesem unangenehmen halben Lächeln.
»Ich interessiere mich nur für einen bestimmten Aspekt der Bombenjahre, Herr Kirchrather. Deswegen war es aus meiner Sicht Zeitverschwendung, sich komplett in die historischen Details einzulesen.«
»Welchen Aspekt meinen Sie?«
»Dass ich vor einigen Jahren im Nachlass meines Vaters auf einen Briefwechsel meines Großvaters gestoßen bin, das stimmt. Aber nicht alle Briefe seines Meraner Brieffreundes sind so unverfänglich wie der, den ich Ihnen neulich gezeigt habe. Ich bin hier wegen eines ganz bestimmten Schreibens, dessen Inhalt ausgesprochen brisant ist. In dem Brief steht, dass es damals, in den Sechzigern, im Befreiungsausschuss einen Verräter gegeben hat. Der Freund meines Opas hatte das offenbar entdeckt, kurz bevor er den Brief verfasste.« Lissie holte kurz Luft. »Dieser Andi schreibt meinem Opa, dass es einen Maulwurf gab, der mit den Italienern gemeinsame Sache machte und einige seiner Landsleute ans Messer lieferte. Wer es war, schreibt er aber nicht. Am Schluss bittet er meinen Großvater um Rat, wie er sich verhalten soll. Doch meinem Opa blieb wohl keine Zeit mehr, ihm zu antworten. Nach dem Datum des Briefes zu urteilen, ist er ungefähr eine Woche nach Erhalt des Schreibens gestorben.«
Bis auf einen brennend roten Fleck unter dem linken Auge, der hektisch pulsierte, war Kirchrather blass geworden. Lissie hatte den Alten am Haken, das war offensichtlich. Jetzt kam es darauf an, den Fisch an Land zu ziehen.
»Wenn Sie
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