Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
auf und erhob sich. Lissies Puls beschleunigte sich. Doch dann sah sie, dass die Frau das Gewehr behutsam auf den Tisch legte.
»Ist wieder nicht geladen.« Elsbeth Hochleitner grinste fast spöttisch. »Und jetzt geh ich.« Sie drückte ihren Hut nochmals fest auf ihre graue Topffrisur und wandte sich ab.
Alarmiert sprang Lissie auf. »Wohin wollen Sie? Sie müssen sich stellen!« Das konnte doch nicht wahr sein! »Wenn die Polizei dahinterkommt, dass der Aschenbrenner es nicht war, dann hat Pavarotti gleich wieder den Niedermeyer am Wickel. Und Sie können doch nicht wollen, dass jemand Unschuldiges ins Gefängnis wandert!«
Im Gehen drehte sich die Frau um und sah Lissie mit einem Ausdruck der Verachtung ins Gesicht. »Glauben Sie wirklich, dass ich so bin? Hab alles aufgeschrieben.« Sie deutete auf einen Briefumschlag, der im Fensterrahmen des Geschirrschranks eingeklemmt war. »Keine Sorge, ich lauf nicht weg. Aber ich muss jetzt in die Berg’, zu meinem Sohn«, sagte Elsbeth Hochleitner.
Zu dem Sohn, der lange tot war. Lissie erschrak. Sie hatte schon befürchtet, dass es am Ende darauf hinauslaufen würde. Deswegen war sie am Nachmittag im Krankenhaus überstürzt aufgebrochen. Die Elsbeth Hochleitner war keine kaltblütige Mörderin. Sie hatte wahrscheinlich schon an dem Abend, als Lissie im Nikolausstift eingebrochen war, mit dem Gedanken gespielt, Schluss zu machen. Mittlerweile war Elsbeth Hochleitner aber anscheinend mit sich ins Reine gekommen. Ihre Verzweiflung, die Lissie vor ein paar Tagen so deutlich gespürt hatte, war einer ruhigen Entschlossenheit gewichen.
Lissie blickte wild um sich. Was konnte sie unternehmen? Sie hatte keine Schusswaffe, außerdem würde die Hochleitnerin sowieso nicht stehen bleiben. Ihr Blick fiel auf ihren Rucksack, der auf dem Tisch lag. Ihre Handtasche war verbrannt, da hatte ihr Louisa den mitgebracht. Mit dem Schinken drin ein prima Sandsack! Lissie packte den Rucksack, machte einen Schritt auf die Hochleitnerin zu und hob ihn über den Kopf.
Die Hochleitnerin lächelte. »Madl, willst mich jetzt k. o. schlagen? Überleg’s dir noch mal. Ist es besser für Justus, wenn er seine Oma zwanzig Jahre im Gefängnis besuchen muss, bis sie endlich den Löffel abgibt?«
Langsam ließ Lissie ihre Arme sinken. Der Rucksack mitsamt Schinken kollerte auf die Küchenfliesen.
»Danke«, sagte die Hochleitnerin trocken und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch. »Sperr ab, wenn alle weg sind.« Sie bewegte den Kopf Richtung Anrichte. »Gib den Brief dem Commissario. Und mein Justus …« Ihre Stimme verlor sich, dann deutete sie nochmals auf die Anrichte: »Da ist noch ein Brief drin, der ist für ihn. Ich hoff, er vergisst mich bald.« Ihre Stimme wurde rau. »Und du, pass auf dich auf, und ein bissl auch auf den Luciano. Eine Starke bist du.«
Lissie wollte etwas sagen, doch sie brachte nur ein Krächzen heraus. »Frau Hochleitner …«
Aber sie redete schon mit der geschlossenen Küchentür. Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen. Was Elsbeth Hochleitner auch immer gewusst hatte über diesen letzten Abend, den ihr Vater vor dreißig Jahren im Nikolausstift verbracht hatte – Lissie würde es nicht mehr erfahren.
* * *
Elsbeth Hochleitner stellte ihr Fahrrad an der Talstation der Seilbahn ab. Der alte Arnold kam mit einem Stirnrunzeln auf sie zugehumpelt. Sie dankte Gott, dass sein junger Kollege, der Arnold in einigen Monaten ersetzen würde, wenn der seinen verdienten Ruhestand antrat, an diesem Tag nicht Dienst hatte. Der hätte bestimmt ein paar neugierige Fragen gestellt. Und die konnte sie an diesem Abend nicht gebrauchen, die Fragen.
»Grüß dich, Arnold«, sagte sie so heiter wie möglich.
»Hochleitnerin! Was machst denn noch so spät hier? Es geht heut nur noch eine Kabine hoch zur Leiter Alm, eine Lastenfuhre. Lebensmittel für den Betrieb oben. Die Kabine bleibt aber oben über Nacht!«
»Ist mir recht, Arnold«, gab Elsbeth Hochleitner gleichmütig zurück. »Wenn ich mitdarf, wär’s prima. Ich will was mit dem Hochmuther Wirt bereden und übernacht bei ihm.« Zufrieden sah sie, dass der alte Arnold die Schultern zuckte und ihr die Tür zur Aufzugskabine offen hielt, die mit Getränkekisten und Kühlboxen voll beladen war.
Oben angekommen, begann Elsbeth Hochleitner langsam den Hans-Frieden-Felsenweg entlangzugehen, der, schmal und steil in die Tiefe abfallend, von der Leiter Alm zum Hochmuther hinüberführt. Als sie ungefähr nach einer
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